Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
schneebedeckte Mütze aus und warf die Jacke über den Kleiderständer in der Ecke. Um ihre Stiefel bildete sich sofort eine kleine Pfütze, und Helmut Motzko sprang von seinem Schreibtischstuhl auf und griff sich einen Wischmopp, der hinter der Tür auf seinen Einsatz wartete.
»Gibt’s was Neues?« Anna startete den PC und fuhr mit dem Zeigefinger über die völlig staubfreie Schreibtischoberfläche. So aufgeräumt war ihr Arbeitsplatz seit vielen Jahren nicht gewesen.
»Nein, nicht wirklich. Ein anonymer Anruf gestern Abend in der Notrufzentrale. Ein Mann hat gedroht, seine Schwiegermutter umzubringen.«
»Und? Hat er es getan?«
»Bis jetzt wurde es zumindest nicht gemeldet.«
»Na, wenn er sie im Schnee vergraben hat, dann dauert’s eine Weile, bis man sie findet. Kennen Sie eigentlich eine Sophie Lechner?«
»Nein, ist das eine Kollegin?«
»Nein, eine wahnsinnig berühmte Schauspielerin. Hans-Günther Steiner?«
»Ja, den kenn ich. Also, ich mein, nicht persönlich, aus der Zeitung halt. Das ist doch dieser Reich-und-schön-Typ, der sich so wichtig macht.«
»Genau. Und die Frau an seiner Seite war bis vor kurzem Sophie Lechner.«
»Ja und? Wieso ist das interessant?«
»Weil die Dame gestern das Zeitliche gesegnet hat.«
»Die Arme. Krebs? Autounfall? Aids?«
»Nein. Ein Messer.«
»Mein Gott! Haben wir einen Fall?« Helmut Motzko stieß beinahe seine Kaffeetasse vom Tisch.
»Nein, nein. Nicht hier. Sie lebt anscheinend seit ein paar Monaten in Berlin. Und jetzt liegt sie in der Gerichtsmedizin. In Berlin. Nicht bei uns. Was aber nicht heißt, dass wir nicht ein wenig über die Dame recherchieren könnten, oder?«
»Wir haben ja sonst nichts zu tun.«
»Na ja, wir könnten ein paar alte Fälle aufrollen.«
»Ja, zum Beispiel diese junge Prostituierte, die scheinbar einfach auf ihrem Bett eingeschlafen ist und nie wieder aufgewacht ist.«
»Woher kennen Sie denn den Fall? Da sind Sie ja noch in die Schule gegangen!«
»Ich hab halt die Akten studiert. Dabei kann man viel lernen.«
»In dem Fall haben Sie nur gelernt, dass man nicht immer Erfolg hat. Ich bin nach wie vor sicher, dass die nicht einfach einen Herzstillstand hatte, aber wir haben nichts gefunden. Rein gar nichts. Und Sie werden auch nichts mehr finden.« Annas Stimme war ein wenig schneidend geworden.
Der junge Kollege blickte betreten auf seine Schreibtischunterlage. »Nein, sicher nicht. Das ist ja viel zu lange her.«
»Auch damals hätten Sie nichts gefunden, glauben Sie mir. Aber Ihre große Zeit kommt sicher noch.« Auch wenn ihr Helmut Motzko mit seinem Diensteifer manchmal richtig auf die Nerven ging, konnte sie nicht abstreiten, dass er ein guter Kriminalpolizist war – oder zumindest werden würde. Seit die Abteilung »Leib und Leben« ihn im vergangenen Sommer wegen Personalmangels aus der »Straßenkriminalität« geborgt hatte, hatte er sich gut entwickelt und war Anna nahezu ans Herz gewachsen, auch wenn sie das natürlich niemals öffentlich zugegeben hätte. Ihr langjähriger Kollege Robert Kolonja zog sie immer wieder mit dem »Jüngelchen, das an deinen Lippen hängt« auf, und Anna konnte nicht abstreiten, dass sie Motzkos offensichtliche Bewunderung genoss. Wie auf Kommando betrat die andere junge Kollegin, Gabi Kratochwil, das Büro. Ihre Mütze hatte sie tief ins Gesicht gezogen, den Schal bis über die Nase gebunden. »Tschuldigung. Mein Auto ist nicht angesprungen«, murmelte sie und stellte ihre Umhängetasche auf den Schreibtisch.
»Kein Problem, ist eh nichts los.« Anna warf ihr einen kurzen Blick zu und fragte sich zum wiederholten Male, was die junge Kollegin dazu veranlasste, sich immer nur mausgrau und schwarz zu kleiden – sie wirkte meistens geradezu unsichtbar. Und wie jeden Morgen setzte sich die junge Kärntnerin wortlos an ihren Arbeitsplatz, schaltete den PC an und schwieg.
»Frau Kratochwil, wenn Sie nichts Wichtigeres zu tun haben, dann googeln Sie doch mal Sophie Lechner, Schauspielerin. Also nicht die Rollen, mehr, was so im letzten Jahr über sie berichtet wurde.«
»Ja, mach ich.« Es war typisch für Gabi Kratochwil, dass sie nicht nachfragte, nichts wissen wollte, sondern einfach den Auftrag ausführte. Und zwar mit großer Perfektion. Anna wusste jetzt schon, dass sie spätestens in einer Stunde ein ordentlich formatiertes und schön geheftetes Dossier vor sich liegen haben würde. Gabi Kratochwil war in Annas Augen der Prototyp des Befehlsempfängers, sie arbeitete
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