Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
Er hatte seinen meist blutbefleckten Mantel gegen einen blütenweißen ausgetauscht und legte Felicitas Zoltan fürsorglich einen Arm um die Schultern. Dann trat er vor und zog dem Leichnam das Tuch vom Gesicht. Anna erkannte sofort die Frau auf dem Foto. Die Haare sorgfältig gekämmt, die Augen friedlich geschlossen, um den Hals war eine dicke weiße Binde gewickelt. Schima hatte ganze Arbeit geleistet. Felicitas Zoltan sah sie lange an und sagte nichts. Der gefürchtete Zusammenbruch blieb aus, nach ein paar endlos wirkenden Sekunden nickte sie und sagte mit erstaunlich fester Stimme: »Ja. Das ist Gilda Beyer.«
Sie setzten Felicitas Zoltan zu Hause ab. Anna lehnte sich erschöpft auf der Rückbank zurück. Als sie bemerkte, dass Motzko den Weg in Richtung Präsidium einschlug, schwappte eine Welle der Müdigkeit über ihr zusammen.
»Tragisch, oder?« Motzkos Stimme klang belegt, er blickte in den Rückspiegel, und das Auto kam für einen kurzen Moment ins Schlingern.
»Sie meinen den Selbstmord?«
»Ja. Und was ist mit der zertrümmerten Hand?«
»Tja, was ist mit der zertrümmerten Hand…«
22
Wenn Bernhardt später an diesen Tag dachte, konnte er den Ablauf der Ereignisse nicht mehr richtig rekonstruieren. Ein flackernder Film mit Aussetzern, weißen und dunklen Stellen lief vor seinem inneren Auge ab, Doppelbelichtungen, Zeitlupen, rasante Sprünge.
Als einer der Retter mit Sebastian Groß am Seil langsam auf den Boden zugeschwebt war, landete der Rettungshubschrauber. Vorsichtig wurde Groß vom Notarzt und seinem Team empfangen. Es gelang Bernhardt, sich in den Hubschrauber zu drängen, sehr zum Missfallen des Notarztes, der während seiner Bemühungen um Sebastian Groß zischte: »Sie sind hier überflüssig.«
»Aber ich muss –«
»Jetzt müssen Sie gar nichts. Der Mann ist in Lebensgefahr. Sie halten gefälligst die Klappe.«
Sebastian Groß wollte sprechen. »Verstehe nicht…«
Bernhardt hielt seinen Zeigefinger vor den Mund und senkte die Augenlider. Sebastian Groß schwieg erschöpft, drehte den Kopf zur Seite und starrte ins Leere. Bernhardt wandte sich an den Arzt.
»Wie sind seine Chancen?«
Das wütende Funkeln in den Augen des Arztes verschwand langsam.
»Er ist jung, er hat, glaube ich, eine ganz gute Konstitution. Seine Kleidung ist gut geeignet für so eine Situation, dicke Mütze, isolierende Jacke, gute Schuhe. Und Handschuhe, sehr wichtig. Das Problem sind Gesicht und Extremitäten, Hände, Füße. Wir müssen ihn langsam aufwärmen, aber das kriegen wir hin. Ich bin eigentlich ganz optimistisch. Er war schon an der Grenze, aber wir sind gerade noch im rechten Moment gekommen.«
Bernhardt legte dem Arzt seine Hand kurz auf die Schulter.
»Danke!«
»Ja, schon gut.«
»Kann ich ihn denn…?«
»Nein, Sie können ihn jetzt natürlich nicht befragen. Wir müssen ihn erst einmal zurückholen aus der Welt der Kälte.«
»Wann?«
»Frühestens heute Nachmittag, würde ich sagen. Aber das bestimmen dann die behandelnden Ärzte.«
Der Hubschrauber war vor dem Bundeswehrkrankenhaus in Mitte gelandet, Bernhardt hatte versucht, mit ins Behandlungszimmer zu gelangen, war aber kurz und entschieden rausgedrängt worden. Was hatte er dann gemacht? War er durchs Krankenhaus gegangen? Keine Ahnung. Seine Erinnerung setzte erst wieder ein, als der Hubschrauber ihn zurückbrachte und auf die weite Fläche rund ums Windrad zuflog.
Die Polizistinnen und Polizisten waren in langen Linien über das Areal verteilt und stocherten mit ihren Stöcken noch immer im Schnee; Cornelia sprach mit einem Ingenieur, der für das Windrad verantwortlich war; Cellarius stand mit Fröhlich an der Zugangstür zum Windrad; der Brandenburger Kollege kam von einem Erkundungsgang zurück.
»Weit und breit kein Haus hier, kein Schuppen, nichts. Die Straße ist zu weit weg, von da kann man nichts Genaues sehen. Und es war ja auch Nacht.«
Bernhardt merkte, wie er sich beruhigte. Alles ging seinen Gang.
»Spuren?«
»Nichts. Nur die Reifenspur.«
Bernhardt fand, dass man sich langsam bekanntmachen musste, und nannte seinen Namen. Der andere lachte. »Hab schon viel von dir gehört.«
»Von wem?«
»Von Maik, dem ›alten Vopo‹, wie du ihn nennst. Hat mir von eurem Ding mit den Terroristen erzählt. Ich heiße…«
Bernhardt verstand nicht. »Rico?«
»Nee, R-a-y-k-o, Rayko. Bin auch ’n alter Vopo.«
»Kann nicht schaden in einem Land wie Brandenburg, oder?«
»Du sagst es.«
Bernhardt
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