Nach dem Bankett.
rief: »Warum nehmen Sie mir das Mikrophon weg? Wollen Sie Noguchi vernichten?«
Der junge Parteimann gab ihr bestürzt das Mikrophon zurück, und Kazus Redefuß brach wieder los. Ihr Wutausbruch war für die Masse ein Schauspiel ohnegleichen gewesen: das von der Nachmittagssonne gerötete Gesicht, auf dem die Wassertropfen glitzerten, hatte sich so plötzlich vor den Augen der Leute verzerrt, daß die Menschen sekundenlang wie erstarrt waren. Es war ihnen, als
hätten sie Kazu nackt gesehen.
Nach diesem ersten Tag wurde es Kazu untersagt, weiterhin so lange Reden zu halten. Im Wahlhauptquartier war man verärgert und ließ Kazu durch Yamazaki ausrichten, ihre Reden dürften nicht länger sein als eine beschriebene Seite, beziehungsweise eine Minute. Man bat sie auch, ihre hemmungslosen Gefühlsausbrüche zu zügeln. Denn es bestand die Gefahr, daß sie damit alle Reformpläne und selbst die Demokratie hinwegschwemmen würde.
Auch der Vorsitzende der Partei, Kusakari, Generalsekretär Kimura und Kanzleichef Kurosawa hielten – nach Yamazakis Weisungen – in verschiedenen Bezirken Tokios Wahlreden. Noguchi selber redete überall: vormittags an strategisch wichtigen Plätzen, nachmittags bei bestimmten Versammlungen und abends bei öfentlichen Wahlveranstaltungen oder im Vergnügungsvierte Er hielt sogar eine Ansprache vor Tagelöhnern und jungen Burschen vom Fischmarkt. Hinter Noguchis Lastwagen fuhr stets ein Wagen der Gegenparte her – manchmal allen sichtbar, manchmal etwas versteckt –, und Tobita Gens Propagandawagen wurde wiederum von einem Wagen der Reformparte verfolgt.
Kazu raste den ganzen Tag mit dem Wagen herum, immer einen Eimer vol Eis neben sich, und nahm jeweils die Plätze vor, an denen sie ihren Mann nich vermutete.
Am Vormittag des dritten Tages hielt der Lautsprecherwagen mitten auf der Straße des Kagurazaka-Hügels, und nachdem bereits verschiedene Parteimitglieder gesprochen hatten, trat Kazu vor, um ihre Minuten-Rede zu halten. Da sah sie unter den dreißig bis vierzig Menschen einen Mann mittleren Alters stehen, dessen Anblick sie mit Entsetzen erfüllte.
Die Sommersonne brannte glühend auf die steil abfallende Straße. Unte den Menschen, die zu den Rednern auf dem Lastwagen hinaufblickten, sah kaum einer wie ein Angestellter aus. Es waren alte Leute, Hausfrauen, die vom Einkauf zurückkehrten, Kinder und ein paar Studenten. Der Wagen stand au der schattigen Seite der Straße, aber die Zuschauer waren dem gleißenden Sonnenschein ausgeliefert, und einige hatten die Köpfe mit einem Taschentuch geschützt. Die Reformpartei fand überall Hörer mit einfachen, sympathischen Gesichtern. Die Menschen, die den Wagen in dichten Reihen umdrängten trugen sommerlich weiße, strahlend saubere Hemden und lächelten ofen unte ihren Strohhüten; die Mädchen waren ungeschminkt und braungebrannt von der Arbeit im Freien. Kazu liebte solche Zuhörer.
Der Mann, den sie vorhin entdeckt hatte, stand etwa in der Mitte. Er trug ein schmutziges, abgetragenes Hemd mit ofenem Kragen, und in der Brusttasche blinkten die Klemmen von zwei Füllfederhaltern. Er preßte mit beiden Armen eine alte Aktentasche an die Brust und hielt eine Zigarette zwischen den Fingern. Die Sonne, die ihm auf das kurzgeschnittene grauweiße Haar brannte, blendete ihn, so daß er das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Kazu hatte ihn erst nach einiger Zeit erkannt, da sie ihn noch nie mit kurzgeschorenem Haar gesehen hatte. Sein Gesicht war ungewöhnlich ebenmäßig, aber alt und abgezehrt. Der einst schöne und jetzt heruntergekommene Mann wirkte eigenartig abstoßend.
Kazu begann ihre Rede wie üblich mit dem Satz: »Ich bin die Frau von Noguchi Yuken.« Dabei schien es ihr, als ob der Mann zu ihr aufgeblickt und gegrinst hätte. Nachdem Kazu ihre kurze Ansprache beendet und einer der Wahlhelfer den Leuten für ihre Aufmerksamkeit gedankt hatte, zerstreute sich die Menge. Der Lastwagen war gerade startbereit und wollte zum nächsten Platz fahren, als Kazu sah, daß der Mann den Arm vorstreckte, um an die Wagentür zu klopfen.
»Gnädige Frau! Gnädige Frau!« rief er mit einem Anfug von Lächeln und zeigte seine tabakbraunen Zähne. Kazu stieg sogleich aus und ging auf ihn zu. Ihr Herz pochte wie rasend unter dem Frotteehandtuch, das sie in die Brustöfnung ihres Kimonos gesteckt hatte, weil sie so schwitzte. Mit absichtlich lauter Stimme rief sie: »Was für ein Zufall! Wir sind
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