Nach dem Ende
kannst nich mitkommen. Ich bin nich dafür da, dass ich mich um dich kümmere. Ich bin kein sanfter, freundlicher Mensch. Verstehst du? Hör zu, du hast dir die Falsche ausgesucht. Bevor ich für dich sorge, verfüttere ich dich eher an die Fleischsäcke. Ich hab keine Lust, mich auch noch mit einem Schwachkopf rumzuschlagen.
Ihr Blick schwenkt vom Auto zurück zu dem Mann.
Verdammich, Dussel. Du hast ein Schicksal, genau wie ich, genau wie alle. Ich bin nich verantwortlich für dein Leben und Sterben. Das geht nich. Bleib, wo du bist, und hör auf, mir nachzurennen.
Sie hebt die Hände, um ihm zu zeigen, dass er nicht näher kommen soll, und zieht sich langsam zum Wagen zurück. Sie steigt ein und klappt die Tür zu. Stocksteif wie ein Baumstamm steht er mitten auf der Straße.
Dann krallt sie die Hände fest ums Steuer und fährt los. In ihrer Hand regt sich wieder das schmerzhaft dumpfe Pochen, und sie klammert sich daran und lässt es nicht los, weil es sich anfühlt wie ein verdientes Leiden.
Nach der nächsten Anhöhe trifft sie auf einen Laden und eine Tankstelle. Die Zapfsäulen funktionieren noch, und sie füllt ihren Tank, dann sucht sie Lebensmittel zusammen. Sie findet Käsecracker und setzt sich damit auf den Bordstein, um sie zu essen. In der Ferne irren ein paar Schaben herum, ohne sie zu bemerken.
Sie erinnert sich daran, wie Onkel Jackson sie und Malcolm entdeckt hat. Sie hatten sich in einem Kanalrohr verkrochen und lebten von Eichhörnchen und Beeren.
Wo kommst du denn her, du kleines Würmchen?
Keine zehn Jahre war sie damals wohl und empfing ihn mit fauchend gebleckten Zähnen wie ein Raubtier aus der Erde.
Verwildert, was? Nehm ich dir nicht ab. Ich seh das Funkeln in deinen Augen, Kleine. Du hast Hirn, ob du magst oder nicht. Meine Hütte ist da vorn, ein halbe Meile ungefähr. Schau vorbei, wenn’s dir in der Röhre zu viel wird.
Er brachte ihr bei, wie man schießt, dass man die Luft anhält, wenn man in die Ferne zielt – und er zeigte ihr, wie man Auto fährt und wie man einen Wagen ohne Schlüssel startet. Er gab ihr und Malcolm Haferflocken in Keramikschüsseln zu essen.
Wie lang kümmerst du dich schon um den Jungen?, wollte er wissen.
Eine Weile.
Bist du seine Schwester?
Sie zuckte die Achseln.
Wir sind in der gleichen Gegend aufgewachsen. Alles ging durcheinander. Keiner hat sich mehr ausgekannt.
Er nickte. Komm her, ich hab was für dich. Ein Khukuri.
Was is das?
Er kramte in einer Truhe in der Ecke und holte schließlich etwas heraus, das in eine Decke gehüllt war. Es war ein Messer mit nach innen gebogener Klinge, die im Schein des Feuers rötlich schimmerte. Es war wunderschön, und sie wollte es sofort anfassen. Sie stellte sich vor, dass sie Kälte und ein Prickeln in den Fingern spüren würde.
Kommt aus Nepal, erklärte er. In Nepal gab es Krieger, die hießen Gurkhas. Stark und wild. Unverwüstlich und eigenständig. Wie du. Sie haben solche Messer getragen.
Wie heißt das Ding? Kuckuck?
Khukuri. Aber wenn du dir das nicht merken kannst, nenn es einfach Gurkhamesser.
Sie weiß noch, wie sie später – der nur zwei Jahre jüngere Malcolm schlief auf einem Haufen Decken in der Ecke, Onkel Jackson schnarchte auf der anderen Seite des Zimmers, und die restliche Glut des Feuers warf einen fahlen Schein durch die Hütte – das Messer in den Händen drehte, immer wieder, die Augen geschlossen, wie sie das Gewicht und die Balance spürte und es an die Wange und die Lippen legte, um es kennenzulernen.
Es war ein Geschenk. Das erste Geschenk, das sie von jemandem bekommen hatte, seit sie denken konnte.
Auf dem Parkplatz des Ladens rappelt sie sich hoch und kehrt zum Auto zurück, wo sie eine Zeit lang auf dem Fahrersitz hockt und sich viele vergangene Dinge durch den Kopf gehen lässt.
Schließlich startet sie den Wagen, kehrt um und fährt zurück zur Trabantenstadt.
Er ist noch immer da, wo sie ihn zum Stehenbleiben aufgefordert hat, zieht an den Enden seiner fettigen Haare und blinzelt mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne.
Sie stoppt neben ihm und kurbelt das Fenster herunter.
Wie lange willst du da noch rumhängen, Dussel? Hast du vor, so lange zu warten, bis dir die Schaben einen Grund geben abzuschwirren? So ein Schwachkopf wie du is mir ja noch nie untergekommen – und ich hab in meinem Leben schon einiges an Schwachsinn gesehen.
Traurig und dumpf starrt er ins Auto. Sie versucht, seinem Blick zu folgen, doch was er wahrnimmt, ist nur in
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