Nach dem Ende
Karten?
Nein. Die habe ich aus Büchern. James bringt sie mir, wenn er sie findet.
Ich weiß, dass du sie nich gemalt hast und so. Aber die Routen – hast du die reingezeichnet?
Ja.
Wozu?
Sein Gesicht leuchtet auf, und er tritt neben sie, um mehrere Bücher aus einem niedrigen Fach zu nehmen. Das sind die Orte, wo ich hinwill, wenn alles wieder normal ist. Ich möchte um die ganze Welt segeln.
Wirklich? Kannst du das?
Das haben die Leute früher auch getan. Hast du schon mal von Neuseeland gehört?
Ich wusste nich mal, dass es ein Altseeland gibt.
Schau her. Er schlägt die Bücher auf und zeigt ihr bunte Fotos von sanften Hügeln, hohen Bergen, geschwungenen Stränden, Märkten mit Ständen und farbenfroh gekleideten Menschen – eine Sammlung schöner Postkartenmotive aus aller Welt. Hier ist Australien, und das ist Tahiti. Und Madagaskar. Sogar Grönland, das aber überhaupt nicht grün ist, sondern das ganze Jahr über gefroren.
Wahnsinn, sagt sie. Und du weißt, wie du da hinkommst?
Er schließt ein Buch und betrachtet den Einband.
Ich würde es versuchen.
Und warum ziehst du dann nich los? Grönland kommt bestimmt nich zu dir. Worauf wartest du?
Bei der momentanen Lage? Er starrt sie verständnislos an. Das wäre doch völlig unmöglich. Aber eines Tages, wenn die Welt wieder ist, wie sie sein soll …
Woher willst du denn wissen, wie sie sein soll? Du bist nich viel älter als ich. Du bist in die gleiche Welt geboren worden wie ich.
Aber ich habe davon gelesen. Mit ausladender Geste weist er auf die abgenutzten Bände in den Regalen. All diese Bücher. Hunderte. Ich weiß, wie es früher war – und wie es wieder sein wird. Großmutter sagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist.
Richard Grierson lächelt, aber es ist das nach innen gewandte Lächeln von jemandem, der sich in die malerischen Winkel seiner Buntstiftfantasien zurückzieht.
Sie betrachtet die Bücher, deren Titel unter einem dünnen Film von Sägemehl verschwimmen, sie betrachtet die Spielzeugschiffe, gebaut für imaginäre Reisen auf den rot gestrichelten Linien einer Landkarte, sie betrachtet die exotischen Bilder in den aufgeschlagenen Bänden vor ihr, und sie begreift, dass diese Orte nur im Kopf existieren. Es drängt sie, diese wilden Träume und Fantasien mit ihren eigenen anzufachen, doch sie haben etwas an sich, was sie unendlich traurig macht.
Noch eine ganze Woche bleibt sie in dem Haus, länger als geplant. Untertags streift sie am Zaun herum und hilft Maisie, nur um sich zu beschäftigen. Mrs. Grierson bringt ihr ein Kartenspiel namens Binokel bei, aber bald beherrscht sie es so gut, dass sie die alte Dame aus purer Gutherzigkeit bei jeder zweiten Partie gewinnen lassen muss. Am Abend klettert sie den Pfad zum Hügel hinauf, schaut hinaus über die Stadt und zählt die Lichter. Manchmal begleitet James Grierson sie, manchmal geht sie allein. Ab und zu wandert sie mitten in der Nacht an seinem Zimmer vorbei, die Tür steht offen, und er liegt auf dem Bett und wartet auf sie. Wenn er nicht zu betrunken ist, gehen sie ihrem Vergnügen nach, aber sie bleibt nicht in seinem Bett, weil sie nicht daran gewöhnt ist, neben jemandem zu schlafen, und sich auch nicht daran gewöhnen will. Im Dunkeln wundert sie sich über das Licht, das sich in seinen Augen spiegelt. Sie trinken aus einer Flasche, und er bietet ihr an, ihn zu begleiten, wenn er das nächste Mal aufbricht, um Vorräte zu besorgen.
Sie nickt und denkt, dass sie dann schon längst weitergezogen sein wird. Sie stellt sich die Straße vor, das Auto, in dem sie wieder allein sitzt, das lange, schmale Asphaltband hinein in ein Land, das sich immer weiter vor ihr ausbreitet, tot und lebendig zugleich.
Sie überlegt, wo sie als Nächstes hinfahren soll. Im Süden hält sie sich jetzt schon lange auf, fast so lange, wie ihre Erinnerung zurückreicht. Hin und her ist sie geflogen, wie eine Amsel, die immer am selben verrottenden Zaun von einem Pfahl zum anderen hüpft. Vielleicht probiert sie es mal mit dem Norden, um die Niagarafälle zu sehen, von denen ihr der Jäger Lee erzählt hat – all das Wasser, das über den Rand der Erde stürzt, ohne dass der Fluss je austrocknet. Das würde sie sich wirklich gern anschauen, kein Zweifel. Und danach vielleicht hinauf nach Kanada, weil sie noch nie in einem anderen Land war, außer Mexiko vielleicht – die Grenze ist nicht mehr klar erkennbar, deshalb hat sie sich bei ihrem Aufenthalt in Texas möglicherweise ab und zu
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