Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
ersten drei Tage ihrer zehntägigen Reise regnete es, aber das war ihnen egal. Ihr Hotelzimmer lag im obersten Stockwerk, und durch das Fenster schaute man über einen Innenhof und einen Kanal. Der Mann, der morgens die kleinen Tische im Innenhof arrangierte, sang mit einer weichen Tenorstimme vor sich hin, und sie hörten ihm durch das geöffnete Fenster zu. Da es regnete, blieben sie lange im Bett und schliefen miteinander, ruhten sich danach aus, horchten wieder auf die Geräusche von draußen und hatten das Gefühl, der Wirklichkeit enthoben zu sein, als wären sie in einer anderen Welt, die nur zu ihrem Vergnügen existierte.
Das Hotel hatte drei Stockwerke, die Zimmer waren klein. Im engen Treppenhaus konnte man nicht nebeneinander gehen, in den Wänden bröckelte der Mörtel aus den Fugen. Jedes Mal, wenn sie hinauf oder hinunter stiegen, konnte Cohen sich nicht verkneifen, einen Kommentar über die schludrige Arbeit abzugeben, die irgendjemand einmal vor langer Zeit hier geleistet hatte. Das Hotel wurde von zwei Schwestern geführt, denen eine Horde Teenager zur Hand ging, die die Teppiche saugten, die Pflanzen wässerten, sich um die kleine Bar und die beiden Tische kümmerten, Croissants besorgten, das Foyer wischten, die Handtücher und Bettlaken wechselten, die Zeitung brachten und alles andere erledigten. Die beiden Schwestern hatten hochgesteckte schwarze Haare mit wenigen grauen Strähnen dazwischen. Sie wirkten ziemlich altbacken, saßen mit verschränkten Armen da, redeten ununterbrochen und standen nur auf, wenn jemand kam und etwas brauchte. Manchmal nicht mal das, dann riefen sie einem der Kinder, das in der Nähe war, etwas zu, und das Kind rannte los und murmelte ängstlich etwas vor sich hin, das man auch verstand, wenn man kein Italienisch konnte.
Wenn es nicht regnete, gingen sie ausgiebig spazieren. Obwohl Elisa zwei Stadtführer besaß und eine genaue Liste der Sehenswürdigkeiten, die sie besuchen wollte, angelegt hatte, waren sie so fasziniert von der alten Stadt und ihren verwinkelten Gassen, dem Klang der fremden Sprache, den malerischen Brücken und Gebäuden, dass sie einfach nur herumlaufen wollten. Sie vermieden die Museen und Kathedralen und beschränkten sich darauf, die Fassaden zu bewundern – gotische Bögen, Details von Heiligenstatuen und die komplexen Glasmalereien. All das faszinierte auch Cohen, der von seinem Vater vor allem gelernt hatte, auf Effizienz und Symmetrie zu achten. Er hatte ganz vergessen oder vielleicht noch nie realisiert, dass man Gebäude mit so viel Fantasie errichten konnte. Statt den Touristenströmen zu folgen oder besondere Sehenswürdigkeiten zu besuchen, spazierten sie über die Kanalbrücken, liefen durch enge Gassen, die sie wiederum zu anderen Brücken führten, von wo aus sie neue Gassen betraten. Sie verirrten sich ständig, mussten umkehren, brauchten eine Stunde oder noch länger, um herauszufinden, wo genau sie sich befanden. Aber sie stießen immer wieder auf kleine Cafés oder Bars und machten sich keine Sorgen um den Weg. Auf diese Weise hatten sie das Gefühl, einige geheime Orte dieser Stadt gefunden zu haben, von denen die normalen Touristen nichts wussten. Drei Tage lang klebten sie in ihrem Hotelbett aneinander, dann liefen sie untergehakt durch die Stadt im Meer.
7
Cohen stand von der Holzbank auf und schaute sich im Raum um, in dem er Schutz gefunden hatte. Ein Baum, überwuchert mit Spanischem Moos, war durch das Dach gefallen und lag jetzt über der Kanzel. Schimmel hatte sich im Chorgestühl und im Taufbecken ausgebreitet. Von den bunten Glasscheiben waren nur noch Fragmente übrig. Ein Lamm zu Füßen von jemandem in einer weißen Kutte. Ein Christuskopf ohne Körper mit einer Dornenkrone und blutenden Wunden. Ein halber Engel, der über eine kopflose Maria hinwegblickte, die ein Baby im Arm hielt. Die Bibeln und Gesangsbücher steckten noch in den Schubfächern auf der Rückseite der Kirchenbänke, aber die Seiten waren vergilbt und wellig. Im Mittelgang stand das Wasser, und die Holzbohlen waren von den Krallen wilder Tiere verkratzt, die hier ein und aus gingen. Er rieb sich die Stirn, sie war feucht, und sein ganzer Körper schmerzte, als er zu dem offenen Portal ging, um nach draußen zu sehen. Er nahm an, dass das Wetter draußen bestimmt nicht besser war. Er war ziemlich geschwächt, aber er wusste, dass er losgehen musste.
Er lief hinaus in den Regen auf die matschige Straße zu, mit verschränkten Armen, die
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