Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
die schmale Wunde um seinen Hals. Er beugte sich weiter nach vorn und schaute sich in die Augen. Es kam ihm vor, als ob sie ihre Farbe geändert hätten. Vielleicht war es auch die Haut oder sein Gesicht, die sich verändert hatten und ihn so fremdartig aussehen ließen. Er lehnte sich zurück. Irgendwie verärgert.
Dann startete er den Motor und fuhr los.
Am Ende des Schotterwegs stand der Hund. Nass und zottelig. Er stieß einen Pfiff aus, und der Hund sprang auf den Beifahrersitz. Zusammen fuhren sie den Highway entlang Richtung Himmel Road.
15
Aggie war immer einer von denen gewesen, auf die man aufpassen musste. Ein starker, drahtiger Kerl mit schmalen Augenbrauen und dünnen Lippen, die immer zusammengekniffen waren, wenn er nicht gerade an einer Zigarette zog. Dichtes, grauschwarzes Haar, in die niedrige Stirn gekämmt, und gebräunte Haut, die sogar in den Wintermonaten dunkel blieb. Er war gefeuert worden, weil er gestohlen hatte, man war mit dem Messer auf ihn losgegangen, weil er sich mit verheirateten Frauen eingelassen hatte, er hatte im Knast gesessen, weil er Autos gestohlen hatte. Er hatte selten länger als ein paar Monate am gleichen Ort geschlafen, und die Frauen, die er gekannt hatte, merkten erst, wenn er längst über alle Berge war, dass der Name, den er ihnen genannt hatte, gar nicht sein richtiger war. Er hatte immer ein eigenartiges Talent gehabt, Freunde zu finden. Er konnte Menschen dazu bringen, ihm zu vertrauen, was ihm ermöglichte, das Leben eines Abtrünnigen zu führen. Eines Tages, als er es wagte, vor einer Kirche in einem Einkaufszentrum in Biloxi Schlangen zu verkaufen, hatte er endlich seine Bestimmung gefunden.
Angefeuert von der Reaktion der Gläubigen und im Adrenalinrausch angesichts der zappelnden Schlange mit dem rasselnden Schwanz und der zuckenden Zunge in seinen Händen, war er zu einem Mann geworden, der Menschen heilen oder innerlich reinigen konnte, dem man glaubte, dass er in die Zukunft sehen konnte, noch bevor er das seinen Anhängern gegenüber behauptet hatte. Es war fast so, als hätten die Leute, die da vor ihm auf den Metallstühlen saßen und schrien und sangen, während er mit der Klapperschlange herumfuchtelte, ihm diese Fähigkeiten zugeschrieben, ohne dass er sie überreden musste. Inzwischen wusste er, dass das alles stimmte. Die Macht, die er über sie hatte, war in guten Händen. Mittlerweile übte er diese Macht seit über zwanzig Jahren entlang der ganzen Golfküste aus, wo er seinen Schlangenkult aus einem karnevalsbunten Wohnwagen heraus zelebrierte. Über dem Wagen flatterte die Fahne des Heiligen Geistes so lange, bis der Gebetsraum gefüllt war und er auf Gottes Geheiß und im Dunkel der Nacht in die Körper und Seelen jener eindrang, die ihm noch nicht untertan waren.
In seiner neuen Welt hatte er die Schlangen durch Waffen und die Kirchen durch seine Wohnwagenkolonie ersetzt.
Er ließ die Frauen zur Toilette gehen und etwas essen. Sie verteilten sich auf dem Feld um die Wohnwagen herum, hockten mit heruntergelassenen Hosen im hohen Gras, ihrem einzigen Schutz vor neugierigen Blicken. Aggie stand unter der Zeltplane neben dem kleinen Lagerfeuer mit dem Revolver in der locker herabhängenden Hand. Der Wind wehte den Regen gegen die Plane und fachte das Feuer an, das zischte wie eine verängstigte Schlange. Er schaute den Frauen nachlässig zu und summte einen alten Gospelsong vor sich hin, den seine Großmutter immer auf dem Klavier im Wohnzimmer gespielt hatte.
Vier Tage war es jetzt her, seit Joe weggegangen war, überlegte er. Er fragte sich, ob er einfach abgehauen war oder irgendwo herumlag, tot oder im Sterben. Er konnte nicht glauben, dass Joe einfach so desertierte. Dafür waren sie beide schon zu lange zusammen, hatten viel zu viel durchgemacht und zu viele Leute hintergangen. Joe gehörte genauso in seine neue Welt wie er selbst. Er hatte geholfen, diesen Platz zu finden, hatte die Trailer abgeschleppt und in einem Kreis angeordnet. Hatte ihm geholfen, Häuser und Läden auszuplündern, hatte mitgemacht, wenn es darum ging, Heimatlosen vorzugaukeln, sie würden ihnen aus Mitmenschlichkeit Essen und ein Dach über dem Kopf anbieten. Er hatte ihm geholfen, die Frauen gefangen zu halten und die Männer zu beseitigen. Und nichts, was Joe getan oder gesagt hatte, deutete darauf hin, dass er abhauen wollte. Aggie hatte sich einen von den Pick-ups genommen und war herumgefahren, um nach dem Jeep zu suchen. Um nach Joe zu suchen. Aber
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