Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
vorankommen«, sagte Cohen. »Ich weiß nicht, wo es noch Straßen gibt. Wo die Brücken noch stehen. Wie es aussieht, wird es ununterbrochen regnen. Mal davon abgesehen, dass wir eine ganze Ladung von nicht sehr beweglichen Personen bei uns haben.«
»Und ein Baby.«
»Genau. Und ein Baby.«
»Wie hat sich das angefühlt, es zu halten?«
Cohen dachte nach und sagte dann: »Hat sich gut angefühlt. Als hätte man was Wichtiges auf dem Arm.«
Evan blies auf seine Hände und hielt sie dann ans Feuer. »Niemand wird doch einer Gruppe von Frauen was antun«, sagte er.
Cohen sah ihn an. Versuchte, eine Antwort zu finden. Er wollte, dass der Junge glaubte, dass sie es bis zur Linie schafften, aber er wollte auch, dass er wusste, was alles nötig wäre, um bis dorthin zu kommen.
»Die Männer hier unten sind nicht so wie die Männer, an die du jetzt denkst«, sagte er. »Die Männer hier unten werden sich wahrscheinlich zuerst an einer Gruppe von Frauen vergreifen, bevor sie sich was anderes vorknöpfen. Ich glaub, niemand vergreift sich an etwas, wenn er nicht weiß, dass es verletzlich ist. So läuft das halt, und so ist es wahrscheinlich immer gewesen.«
»Dann stimmt das wohl«, sagte Evan.
»Was stimmt?«
»Dass die Männer hier unten nicht so sind wie die Männer, an die ich denke.«
Cohen stellte sein Bier hin und zündete sich eine Zigarette an. »Wo ist deine Mutter?«, fragte er.
»Wo ist deine?«
»Im Himmel oder in der Hölle.«
»Meine auch«, sagte Evan und warf seine leere Dose ins Feuer.
Er lehnte sich zurück und sagte: »Und was machen wir, wenn wir es bis dorthin geschafft haben?«
»Keine Ahnung.« Cohen schüttelte den Kopf. »Hier kann man jedenfalls nicht leben.«
»Wieso bist du dann dageblieben? Wegen deiner Frau?«
Cohen lachte vor sich hin. »Meine Frau. Wahrscheinlich. Wegen meiner Frau.«
»Wurde sie getötet?«
»Ja. Ist schon eine Weile her. Eine ganze Weile.«
Evan schien verunsichert. Er dachte eine Weile nach und fragte: »Also? Warum bist du geblieben?«
»Warum bin ich geblieben«, wiederholte Cohen. »Warum?« Er richtete sich auf und schaute sich um. Hinaus aufs Land, wo alles nur schwarz war. »Wahrscheinlich wirst du das eines Tages besser verstehen. Irgendwann in ferner Zukunft wirst du wahrscheinlich verstehen, dass man etwas mit sich herumträgt, das niemals wirklich werden kann, aber es fühlt sich so wirklich an wie ein Sack Zement, der dir über der Schulter hängt, und du läufst mit diesem Gewicht herum und kannst dich nicht davon befreien. Aber aus irgendeinem Grund ist die Zeit nun dafür gekommen.«
Er lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Evan stand auf, nahm sich ein weiteres Bier aus der Packung und trat näher ans Feuer. »Was wirst du tun, wenn wir dort sind?«, fragte er.
Ich weiß nicht, dachte Cohen. Ich weiß es nicht.
»Weiß nicht«, sagte er.
»Klingt so, als würdest du es weiter mit dir rumschleppen.«
Er sah den Jungen an. So dünn, so jung und so viel Verantwortung. »Es ist gut, dass du dich um den Kleinen kümmerst.«
Evan drehte sich um, ging zu seinem Stuhl und setzte sich. Dann sagte er: »Du machst dir Sorgen um etwas, das gar nicht da ist. Wenigstens kann ihr jetzt nichts mehr passieren. Sie kann nicht noch schlimmer verletzt werden. Aber der, um den ich mich kümmern muss, läuft herum, kriegt Hunger, und ihm wird kalt. Er weint, wenn er Angst hat. Klammert sich an mein Bein.«
Cohen seufzte. Er hat’s schon verstanden, dachte er.
»Hast du vorher schon mal Bier getrunken«, fragte er ihn.
»Nie mehr als eins.«
»Und das wievielte ist das jetzt?«
»Das zweite.«
Ein paar Minuten später stand Evan auf und ging zu seinem Wohnwagen. Cohen blieb allein zurück. Er trank weiter und dachte darüber nach, was hinter ihm lag und was noch auf ihn zukam. Dachte über diese bunte Flüchtlingstruppe nach. Fragte sich, ob er nicht hinübergehen und Aggie umbringen sollte, einfach nur, um herauszufinden, wie sich das anfühlte, wenn man einen Menschen tötete. Denn er hatte das Gefühl, dass das noch auf ihn zukam, bevor alles vorbei war.
Später in der Nacht spürte Kris einen heftigen Schmerz im Rücken, drehte sich um und versuchte, es sich bequem zu machen, aber der Schmerz blieb. Schließlich weckte sie Nadine, die zusammen mit dem Baby auf der anderen Seite schlief.
»Mir geht’s ganz schlecht«, sagte sie zu ihr.
Nadine richtete sich auf und rieb sich das Gesicht: »Was?«
»Ich hab einen Krampf im
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