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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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nicht, ob er schlief oder wach war. Also fragte er ihn noch mal, aber diesmal richtete er die Pistole auf ihn.
    Aggie antwortete nicht. Bewegte sich nicht. Der Wind war stärker geworden, und im Süden blitzte es. Aggies Körper hing schlaff am Anhänger, leblos, gebrochen. Sein Kopf war nach vorn gefallen. Wenn man ihn losschnitt, so wirkte es, würde er auf den Boden fallen und nie mehr aufstehen.
    Cohen senkte die Waffe. Schaute ihn eine Weile an. Als er sich dann zum Gehen wandte, hob Aggie den Kopf und sagte mit tiefer Stimme: »Ich wollte dich das Gleiche fragen.«
    Cohen blieb stehen und sah ihn an.
    Aggies Stimme kam aus der Dunkelheit.
    »Es war vor zehn oder fünfzehn Jahren, als es in einer Sommernacht richtig heftig wurde. Es war höllisch heiß und so.« Seine Stimme war tief, aber fest, wie ein ruhig laufender Motor. »Ich hatte diese Klapperschlange dabei, die mich richtig heiß machte, die größte, die ich je hatte, denke ich. Die kroch über mich. Die Orgel spielte laut, die Leute sangen und tanzten, Amen hier, allmächtiger Gott da, und da stand ein Mann von einer hinteren Bank auf. Er und sein Sohn. Bis dahin hatte ich sie gar nicht bemerkt. Sie standen auf und kamen durch den Mittelgang nach vorn. Der Mann trug den Jungen. Der war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Keiner von beiden sagte etwas. Sie blieben einfach vor mir stehen, bis ich es bemerkte und aufhörte zu singen. Die Orgel hörte auf zu spielen, und die Leute hörten auf zu singen und zu tanzen. Alle standen da und warteten, dass die beiden was sagten. Und als er schließlich was sagte … du weißt schon, was er sagte, stimmt’s?«
    »Ja, klar, ich weiß«, sagte Cohen.
    »Ja, ich wusste es auch. Wir alle wussten, was jetzt kommen würde. Er sagte, heile meinen Jungen. Leg deine Hand auf seine Beine. Sie haben noch nie richtig funktioniert. Die Ärzte sagen, das werden sie auch nie, aber leg du bitte deine Hand auf ihn, und lass den Herrn das Wunder vollbringen. Der liebe Gott soll ihn wieder gesund machen. Leg deine Hände auf ihn.«
    Aggie machte eine Pause und hustete. Cohen wartete ab.
    »Es wurde ganz still. Ich schwöre, ich hörte, wie Schweißtropfen auf dem Fußboden landeten. Ich hatte schon eine Menge Scheiße veranstaltet. Wirklich eine Menge. Aber ich hatte verdammt noch mal nie behauptet, ein Heiler zu sein. Damit wollte ich nie was zu tun haben. Das war mir zu groß. Aber da stand er nun vor all den Leuten und forderte mich auf, meine Hände auf diesen Jungen zu legen. Damit Gottes Kraft durch mich hindurch zu ihm gelangte, um seine Beine zu heilen.«
    Er hielt inne. Sein Kopf fiel nach vorn.
    »Und?«, fragte Cohen.
    Aggie hob den Kopf. »Also legte ich die Klapperschlange in die Kiste und sagte dem Organisten, er solle was Ruhiges spielen. Dann forderte ich alle auf, die Hände zur Decke zu strecken und für diesen Jungen zu beten. Dann zog ich mein Hemd aus und wischte mir das Gesicht ab und tat so, als würde ich den Heiligen Geist aus der Tiefe meines Herzens anrufen, und fasste die Beine dieses Jungen an und betete wie ein Wahnsinniger, bis ich nicht mehr konnte. Und dann ließ ich ihn los. Schaute seinen Vater an und dann den Jungen, drehte mich um und rannte zur Hintertür hinaus. Rannte und rannte immer weiter, bis ich einige Meilen entfernt war. Dann ging ich in eine Spelunke und trank Jack Daniels, bis sie mich zusammen mit dem Müll raustrugen.«
    Als er damit fertig war, gab Aggie einen tiefen Seufzer von sich. Cohen schaute sich in der Dunkelheit um. Bewegte unschlüssig seine Pistole hin und her. Der Wind blies ihm ins Gesicht, wehte seine Haare zurück, und das Regenwasser lief ihm über die Wangen und drang in seine Augen.
    »Ich konnte nichts tun. Es gab keinen Ausweg. Keine Tricks. Ich war in einer Sackgasse angelangt, egal, wie man es betrachtete.« Aggie seufzte erneut und fuhr angriffslustiger fort: »Genau wie du. Egal, wohin du gehst, du landest in einer Sackgasse. Du glaubst, du hast einen Plan, aber in Wirklichkeit hast du keinen blassen Schimmer. Was, glaubst du wohl, wird mit dir passieren? Mit ihnen? Was, glaubst du, wird passieren? Ich weiß, mit was du dich herumplagst. Du hast die Zimmer zugenagelt, als könntest du damit die Geister einsperren, aber sie kommen unter den Türen durch. Schleichen sich durch die Risse in der Wand ein und leben mit dir. Ich hab dein Haus gesehen. Hab gesehen, was du da alles zugenagelt hast. Was, glaubst du wohl, wird passieren, wenn du die Linie

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