Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
wurden.
Das war das letzte Mal gewesen, dass sie jemanden von ihrer Familie gesehen hatte. Die Busse fuhren in verschiedene Richtungen, und sie war in einen hineingestoßen worden, ganz allein, ohne Angehörige. Die Frau vom Fitnessraum der Highschool, in der sie fünf Stunden später ausgeladen wurden, sagte ihr, es würde einige Zeit dauern, aber sie würden sie bestimmt finden. Doch am Klang ihrer Stimme erkannte Mariposa, dass viel zu viele Menschen die gleichen Fragen stellten.
Jetzt spürte sie es wieder. Sie hörte die Schreie und die Schüsse und das Gebrüll der verunsicherten, ängstlichen Menschenmenge.
Cohen beugte sich über das Lenkrad und unterbrach ihre Gedanken.
»Was?«, fragte sie.
»Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was Charlie betrifft, wenn ich mir den Regen und den Himmel so anschaue.«
Sie fuhren vorsichtig und kamen an verfallenen Orten vorbei, mussten umgefallenen Telefonmasten und abgedeckten Dächern und sonstigem Schutt ausweichen, der auf die vierspurige Straße gefallen war, die parallel zum Ufer verlief. Schließlich erreichten sie den Parkplatz des Grand Casino. Als Cohen sah, was da los war, hielt er an. Er sagte Mariposa, sie solle aussteigen und den anderen Bescheid geben.
»Hast du etwas entdeckt?«, fragte sie.
»Wir fahren da nicht hin. Sag ihnen einfach nur das.«
Sie stieg aus und tat, was er verlangte, dann kam sie zurück zum Jeep. Die anderen Fahrzeuge rückten auf, bis Cohen ihnen das Zeichen zum Anhalten gab. Er stieg aus und rief Evan zu sich.
»Was ist los?«, fragte der.
»Etwas, das dein kleiner Bruder nicht sehen muss. Etwas, das niemand sich ansehen sollte. Pass auf, dass sie alle hinten bleiben.«
»Aber was ist es denn?«
»Ein Haufen Leichen.«
»Verdammt. Neue?«
»Sieht so aus. Alle sollen auf ihren Plätzen bleiben.«
Evan ging zu den Pick-ups zurück. Cohen zog eine Pistole aus seiner Jackentasche und ging auf den Parkplatz zu. Mariposa ging mit.
»Geh zurück zu den anderen«, sagte er.
»Will ich aber nicht.«
»Du willst auch nicht dahin mitkommen.«
»Ich will’s sehen.«
Er ging weiter und verzichtete darauf, sich mit ihr herumzustreiten. Sie überquerten das Rasenstück vor dem Grand Casino. Riesige Löcher waren darin, jemand hatte hohe Erdhaufen aufgeschüttet. Eine Palme stand noch, aber einige andere waren umgekippt, und ein dickes Stromkabel ringelte sich über das Gras wie eine schlafende Schlange. Sie gingen bis zur Auffahrt, wo die gut gekleideten Casinogäste einst in Limousinen vorfuhren, und erreichten den Parkplatz, auf dem die Leichen herumlagen wie weggeworfene Puppen.
Es war ein regelrechtes Massaker gewesen. Die Leichen lagen über den Asphalt verteilt. Mariposa schnappte nach Luft, und Cohen befahl ihr, stehen zu bleiben, wo sie war. Er ging zwischen ihnen herum. Einige von den Toten hatte er vor Charlies Laster stehen sehen. Da war der Dicke mit den Pokerchips. Neben ihm lag der alte Mann mit dem Weltuntergangsschild, über das dunkelrotes Blut gespritzt war. Es waren ungefähr zwanzig Leichen. Einige hatten die Augen geschlossen, andere glotzten mit leerem Blick in den Himmel, während der Regen auf sie prasselte. Das Blut war schon von ihnen abgewaschen, hatte sich mit dem Regenwasser auf dem Asphalt verteilt und bildete abstrakte, beinahe künstlerische Muster. Er bemerkte die Löcher in ihren Brustkörben, in ihren Armen und Köpfen. Und den erstaunten Gesichtsausdruck von manchen, über die der Tod offenbar völlig überraschend gekommen war. Ein Stück entfernt von den anderen lagen zwei von Charlies muskulösen Leibwächtern in ihren schwarzen Hemden und Hosen, aber ihre dicken Arme und Beine wirkten nicht mehr besonders kräftig. Ihre Waffen waren verschwunden, und man hatte ihnen die Schnürstiefel von den Füßen gezogen. Cohen stieg über sie hinweg, lief um sie herum.
Er hielt an und schaute die Straße entlang. Alles war grau, es wurde dunkel, und der Regen verhinderte eine klare Sicht.
Donnerschläge hallten über die aufgewühlte See, und es blitzte weiter, während der Wind die Wellen gegen das Ufer drängte. Er warf noch einen Blick auf den Parkplatz mit den Leichen, und ihm wurde klar, dass es ziemlich entschlossene und zu allem bereite Männer hier draußen gab. Möglicherweise nicht weit entfernt. Vielleicht beobachteten sie sie ja schon. Männer, die sich nahmen, was sie kriegen konnten, egal von wem. Also genau das, wovon sie eigentlich genug gehabt hatten.
»Kennst du sie?«, fragte
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