Nachsuche
Er konnte es an ihren Augen sehen, als sie atemlos auf sein Klingeln öffnete. Mit einem unbeschreiblichen Laut sank sie ihm in die Arme. Diese Hingabe, dieses Vergehen, das war es, warum er sich den ganzen Beziehungsstress antat. Er drängte sie zurück, warf die Tür zu und nahm sie ohne große Umstände gleich dahinter auf dem Fussboden. Er war ein wenig grob, er wusste es, aber es beruhigte sie. Sie glaubte, er habe sie so sehr vermisst. Er konnte ihre Gedanken mühelos lesen. Nur ungern legte er sich anschließend noch mit ihr aufs Wohnzimmersofa. Sie schmiegte sich eng an ihn. Er wäre lieber gegangen.
»Ich muss wieder«, sagte er und sie darauf: »Das kannst du mir nicht antun. Ich bin so allein.«
Da geht es schon los, dachte er.
»Ich weiß, Butterblümchen«, beruhigte er sie, »ich weiß, aber im Moment habe ich zu viel am Hals.«
Der Kosename konnte sie nur kurz beschwichtigen. Er hatte einmal am Anfang gesagt, sie sei so weich und rund wie eine Butterblume. Rüdisühli war fast ein wenig stolz. Er ließ sich etwas einfallen für die Beziehung. Als er sie das erste Mal so nannte, küsste sie ihm die Hand. So gerührt war sie. Diesmal nützte es ihm nur wenig.
»Du weißt gar nicht, wie das ist«, fuhr sie in jammerndem Ton fort.
»Ich bin ganz allein aus dem Krankenhaus weg. Niemand, der mich abgeholt hätte, niemand, der mir mit der Tasche geholfen hätte. Ich habe sie allein hinuntergeschleppt. Von den Schwestern war keine da, die hatten Mittagspause. Der Portier hat ein Taxi bestellt. Und ich bin sofort nach Hause. Aber du warst nicht da.«
»Ja«, sagte er ergeben.
Sie machte unbeirrt weiter: »In der ganzen Zeit hast du mir nur zwei SMS geschickt. Und was hast du geschrieben? Nichts, nur gute Besserung.«
Rüdisühli reichte es. Er richtete sich auf.
Energisch sagte er: »Du kennst meine Situation. Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht vorgewarnt hätte. Ich habe da ein äußerst schwieriges Geschäft am Laufen. Schließlich muss ich Geld verdienen. Das wirst du wohl einsehen.«
Sie sah ihn scheinbar schuldbewusst und zugleich rebellisch von unten an.
»Ich habe immer ganz fest an dich gedacht. Hast du das nicht gespürt?«
Sein Ton war anklagend. Das nützte. Jetzt wurde sie unsicher.
»Oh ja«, sagte sie, »aber …«
»Was aber?«, unterbrach er sie barsch.
Sie wusste nicht weiter.
Jetzt, dachte er, hatte er sie so weit. Jetzt würde er gehen, und er griff nach seinen Hosen.
»Berti und ich«, sagt Corinna zu Noldi, »haben uns wieder getroffen, aber sie hat nie etwas von den Scans gesagt. Ich habe auch nicht gefragt. Das war blöd von mir. Warum in aller Welt hat sie das Zeug aufgehoben?«
Sie schaut Noldi ratlos an.
»Keine Ahnung«, sagt er, auch wenn das nicht ganz die Wahrheit ist. Er hat einen bösen Verdacht, den er lieber nicht ausspricht.
»Und Ihr Mann weiß sicher nichts?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Das würde ich merken. Glauben Sie, Kevin könnte so etwas für sich behalten, ohne dass man es ihm ansieht?«
Noldi muss ihr recht geben. Nachdenklich schaut er aus dem Fenster. In diesem Moment biegt ein großer Amerikanerschlitten um die Hausecke und hält etwas ruppig vor der Werkstatt. Noldi traut seinen Augen nicht, als sein Sohn auf der Fahrerseite aus dem Auto klettert. Pauli schaut drein, als hätte er eben ein Wunder erlebt.
Kevin reißt die Beifahrertüre auf, springt heraus und schreit: »Gratuliere, du bist der geborene Rennfahrer.«
Sein rundes Gesicht strahlt vor Freude. Er klopft dem Jungen heftig auf die Schulter.
»Wirklich«, sagt er, »ich meine es ernst. Du hast Talent. Du warst großartig. Stell dir vor, das erste Mal, dass du ein Auto fährst.«
Noldi geht zu den beiden hinaus, zückt seinen Fotoapparat, um sie zu fotografieren.
Da rastet Kevin aus. Er reißt die Arme in die Luft und es sieht so aus, als wolle er sich auf Noldi stürzen. Der hört Corinna hinter sich. Sie lacht und sagt etwas zu hastig: »Sehen Sie, das ist typisch Kevin. Er hat einen Tick. Er glaubt, wer ihn fotografiert, stiehlt ihm die Seele.«
Ihr Mann schaut sie einen Augenblick verdutzt an, dann hellt sich sein Gesicht auf und auch er lacht los, laut und unbeschwert.
Noldi staunt, wie schnell Pfähler sich wieder unter Kontrolle hat. Oder ist er wirklich dieses Kind, das er zu sein vorgibt? Er mustert das offene Gesicht, auf dem nur eine leichte Röte an den Wutausbruch von vorher erinnert.
Eben öffnet Kevin den Mund, um etwas zu sagen. Wieder kommt ihm
Weitere Kostenlose Bücher