Nacht
es bereuen!«
Ich reiße sie ab und übergebe sie Morgan, als wäre sie ein Beweisstück, das bei Gericht vorgelegt werden muss. Als wir mein Zimmer betreten, bringt mich das Geräusch der zuklappenden Tür plötzlich wieder ins Gleichgewicht. Ich knipse die Nachttischlampe an und stelle erst da fest, was für ein Desaster ich beim Weggehen hinterlassen habe.
»Entschuldige das Chaos hier drin.«
»Kein Problem. Du solltest mal mein Zimmer sehen. Meine Mutter weigert sich inzwischen, es zu betreten.«
Komisch. Ich hätte geschworen, dass er ausgesprochen ordentlich ist. Außerdem, ich weiß auch nicht, warum, habe ich nie daran gedacht, dass auch er eine Mutter, einen Vater, eine Familie haben könnte. Vermutlich, weil ich sie noch nicht kennengelernt habe und er sie bisher nie erwähnt hat.
»Setz dich.«
Morgan lässt sich auf meinem Bett nieder, schafft sich Platz zwischen Klamotten und Bettdecken.
Ich gehe zu meinem offenstehenden Schrank und grabe in einem Haufen Pullis und alten Schuhen. Finde das violette Heft, hole es heraus und gehe zum Bett. Setze mich neben Morgan, der mich keinen Moment aus den Augen lässt.
»Was ist das?«, fragt er.
Im Licht meiner Nachttischlampe ähnelt Morgans Gesicht dem einer griechischen Skulptur. Seine Augen haben die Farbe einer seltenen Blume, und seine Haare schimmern wie Gold. Er ist mir noch nie so schön vorgekommen.
Ich atme tief durch und versuche, den nötigen Mut aufzubringen, ihm zu antworten. Doch es gelingt mir nicht, also gebe ich ihm einfach das Heft.
»Lies.«
Morgan nimmt es mir aus der Hand und schlägt es auf der ersten Seite auf.
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Kapitel 57
L angsam folgen Morgans Augen dem Fluss der Zeilen, hangeln sich an den Worten entlang, tauchen ein in das Schwarz der eckigen Buchstaben, mit denen die Seiten übersät sind wie ein Friedhof mit Grabsteinen.
Ich warte ungeduldig und mit einer ängstlichen Unruhe, die meinen Atem und meinen Herzschlag dem Rhythmus der Punkte und Kommas dieser verdammten Geschichten anpasst.
Als er die erste gelesen hat, blickt Morgan auf. Ich zittere. Weiß nicht, welche Reaktion ich erwarten soll. Wir sehen uns ein paar Sekunden an, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, dann öffnet sich sein Mund, zeitlupenartig.
»Entspann dich.«
Anschließend vertieft er sich wieder in die Lektüre und unterbricht sie nicht bis zum Ende der letzten Geschichte.
Mit angehaltenem Atem beobachte ich ihn, bis er das Heft zuklappt. Dann beginne ich zu sprechen.
»Ich habe schon länger Alpträume, Morgan. Seit ich diesen Unfall hatte. Wir sind mit dem Auto gefahren, zwei Freundinnen und ich. Das Auto ist von der Straße abgekommen, und sie sind gestorben. Auf der Stelle. Ich dagegen hatte noch nicht mal einen Kratzer. Mein Körper war unversehrt und mein Verstand vollkommen klar. Kühl. Analytisch. Ich … ich habe nie wirklich um meine beiden Freundinnen getrauert. Sie waren meine besten Freundinnen seit der Kinderzeit. Ich wusste es. Ich wusste, dass ich unter ihrem Tod hätte leiden müssen. Ich hätte traumatisiert sein müssen. Aber die Wahrheit ist, dass ich nichts dergleichen empfunden habe. Ich war traurig, sicher. Aber ich hatte nie ein Trauma. Nur Kopfschmerzen. Anfallsweise, lang anhaltend, stärker bei Nacht, und manchmal passiert es auch, dass ich schreie oder spreche oder …« Ich zeige auf das violette Heft und füge flüsternd hinzu: »Schreibe.«
»Möchtest du mir von dem Unfall erzählen?«
Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, abgesehen von Doktor Mahl. Aber mit Morgan ist alles anders.
»Es war ein besonderer Tag. Maureen hatte gerade ihren Führerschein gemacht, und ihr Vater hatte ihr einen Kleinwagen geschenkt, der unsere Transportprobleme lösen sollte, wenn wir abends ausgingen. Also beschlossen Maureen, unsere Freundin Dolly und ich, das Ganze mit einer Jungfernfahrt zu feiern.«
»Erinnerst du dich noch daran, was ihr vorher gemacht habt?«
»Ehrlich gesagt, nein. Der Arzt meinte, meine Gedächtnislücken kämen von dem Unfalltrauma, obwohl ich, wie gesagt, kein bisschen traumatisiert war.«
Morgan hört mir schweigend zu. Sein Blick ist ganz auf mich konzentriert.
»Jedenfalls sind wir in das funkelnagelneue Auto gestiegen, ich auf den Rücksitz und Dolly neben Maureen auf den Beifahrersitz. Wir fuhren in Richtung Stadtrand, weil Maureen sich im Stadtverkehr noch nicht so sicher fühlte. Ich weiß nicht mehr genau, welche Strecke wir genommen haben, aber irgendwann kamen wir an
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