Nacht der gefangenen Träume
sagen. Wer spricht, wird verletzlich.
»Gefällt’s dir hier, bei deinen Freunden?«, fragte Bruhns und lächelte.
Frederic schwieg. Tausend Antworten lagen ihm auf der Zunge, wo sie einen schalen Geschmack verbreiteten, doch er schwieg. Ich bin Hendriks Sohn …
»Dein Vater scheint sich große Sorgen zu machen«, fuhr Bruhns fort.
Frederic schwieg.
»Er wird dich vielleicht nie wiedersehen. Irgendwie tragisch.«
Frederic schwieg.
»Was starrst du mich so an? Habe ich irgendetwas im Gesicht?«
Frederic schwieg.
»Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist zu starren?«
Frederic schwieg. Und dann wandte Bruhns seinen Blick ab. Frederic triumphierte schweigend. Er war stärker als der HD. Bork Bruhns würde sich noch wundern.
Bruhns streute eine Handvoll Blütenblätter und Konfetti in den Käfig und beobachtete, wie ein Traum nach dem anderen sich seinen Anteil abholte. Nur der letzte Traum, der sich von der Decke herabschwang, fraß nichts. Er hockte sich neben den Rest der Konfetti und Blütenblätter und blieb dort sitzen.
»He, Kurt«, flüsterte jemand von oben, »jetzt iss was, verdammt noch mal! Du hast schon die letzten beiden Wochen über nichts gegessen.«
Frederic sah auf. Dort hatte eines der Knäuel einen mahnenden Zeigefinger ausgestreckt. Bruhns war schon weitergegangen, um die Träume in den nächsten Käfigen zu füttern.
»Du wirst gleich sehen«, flüsterte der Traum, der offenbar Kurt hieß. »Heute wird es klappen.« Er klang schwach und irgendwie krank.
»Was ist los mit ihm?«, fragte Frederic leise.
»Oh, er ist ein Idiot«, sagte der Traum mit dem mahnenden Zeigefinger. »Wir wissen nicht mal, was er ist. Man erkennt es nicht.«
»Ich werde es bald wissen«, hauchte Kurt. Frederic sah erstaunt zu, wie er sich entfaltete. Er war der Einzige, der mutig genug dazu war. Trotz der Rede, trotz Bruhns. In entfaltetem Zustand bestand Kurt aus lauter abstrakten Linien, Kurven und Farben. Manch einer träumte eben so was.
»Und jetzt«, wisperte Kurt, »jetzt werdet ihr sehen, warum ich nichts gefressen habe. Um hindurchzupassen nämlich. Es lebe die Freiheit. Etwas muss doch mal geschehen!«
Damit komprimierte er sich wieder, zog sich zusammen, soweit es nur irgend ging, wurde kleiner und dünner als jeder andere Traum und schlüpfte durch eine der Maschen. Frederic öffnete den Mund zu einem verblüfften »Oh«. Draußen entfaltete sich Kurt, flog auf und flatterte als buntes Irgendetwas durch den Gang. Dabei rief er noch einmal: »Es lebe die Freiheeeeit!«
Doch sein Rufen glich mehr einem heiseren Flüstern.
Bruhns blieb stehen und drehte sich um. Frederic beobachtete atemlos, wie Kurt auf ihn zuflog. Genau einen Meter vor dem Direktor taumelte Kurt, schien das Gleichgewicht zu verlieren und – stürzte ab. Der Traumwächter schlurfte an die Stelle, wo Kurt auf dem Boden noch einmal zuckte und dann still lag. Er hob ihn auf, ein schlaffes Farbbündel, und schüttelte den Kopf.
»Er war zu schwach«, sagte er leise. »Hat es nicht geschafft. Er ist einfach verhungert. Jetzt wird er nie erfahren, was er darstellen sollte. Er wollte so gerne seinen Besitzer wiederfinden, um ihn danach zu fragen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen in der Halle, absolutes Schweigen. Dann räusperte sich Bruhns und ging weiter, als wäre nichts gewesen. Aber an diesem Tag fraß keiner der Träume mehr einen einzigen Krümel. Frederic wusste, dass sie es nicht taten, um Kurt nachzueifern. Es war ihre Art, um ihn zu trauern.
Seine Art war es, sich einmal verstohlen über die Augen zu wischen, wo sich eine Träne eingeschlichen hatte. Wie konnte man um etwas weinen, von dem man nicht mal wusste, was es eigentlich gewesen war? Aber es war mutig gewesen, sehr sogar.
Frederic schluckte. Kurt hatte recht. Etwas musste geschehen. Bald.
Die Tür war kaum hinter Bork Bruhns und den anderen beiden Lehrern ins Schloss gefallen, da tippte jemand Frederic auf die Schulter. Er fuhr herum und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
»Machen Sie auf!«, sagte Lisa. Sie sagte es nicht einmal laut. Sie wusste, dass sie gehört wurde. »Machen Sie auf, denn ich weiß, dass Sie da sind! Es ist etwas passiert. Und Sie sind schuld. Also los. Wir haben keine Zeit.«
Drinnen rasselten Ketten und drei verschiedene Schlösser wurden aufgeschlossen.
Dann erschien im Türspalt ein spitzes, altes Gesicht. Lisa konnte die Schnurrhaare daran nicht sehen. Aber vielleicht war das auch gar nicht
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