Nacht der gefangenen Träume
Ein Stück des Tonbands in der Maschine fehlt …«
»Sie sind, möchte ich mir anmaßen zu bemerken, so komprimiert wie immer«, sagte der Traumwächter und strich unruhig über seine abgewetzte Weste. »Nachdem ich das Tonband in der Halle abgespielt hatte, haben sie sich benommen wie alle anderen.«
»Ah, sehr schön. Dann brauche ich sie nicht extra zu suchen. Ich dachte mir schon, dass dieser Junge uns nichts Ernstes anhaben kann. Aber man weiß nie. Er hat mich irgendwie nervös gemacht.« Bruhns lachte in einem seltenen Anfall von Verlegenheit. »Es ist bald Fütterungszeit, nicht wahr? Ich werde das für Sie erledigen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Direktor.« Der alte Traumwächter senkte den Kopf und schlurfte davon. Bruhns sah sich um. »Ich füttere sie gern. Gibt einem ein gutes Gefühl. Und dies ist vermutlich das letzte Mal, dass ich es tun kann.« Er seufzte. »Zu schade um die Halle. Aber ich habe bereits eine neue Lokalität angemietet, in einem anderen Vorort. Wird sicher nicht lange dauern, bis wir die Schleusen angebracht haben. Das Prinzip ist simpel. Käfige sind schon geordert …«
»Sie denken auch an alles!«, schmeichelte die Ziesel augenaufschlagend (eigentlich ein ekliger Ausdruck, dachte Frederic). »Ist es vielleicht das Abrisshaus? Das wäre doch praktisch.«
»Sind Sie wahnsinnig?« Bruhns’ Stimme nahm einen Ton schlecht unterdrückter Panik an. »Dieses alte, baufällige Ding? Es wird irgendwann sowieso einstürzen. Keine fünfzehn Pferde kriegen mich in dieses … hässliche … abstoßende … Haus.«
Es hörte sich an, als wäre er persönlich sauer auf das Haus.
»Ich – äh – meinte ja nur«, murmelte die Ziesel erschrocken.
»Jedenfalls sollte das letzte Paket in ein bis zwei Tagen da sein«, sagte Fyscher. »Dann fehlt uns zwar immer noch die Sendung, die abhandengekommen ist …«
Ein gefährliches Zischen drang aus Bruhns’ doppelreihig bezahntem Maul. »Ach, halten Sie den Mund! Es wird auch so gehen. Ein Paket mehr oder weniger! Wenn ein paar überleben … egal. Es eilt. Haben Sie nicht gesehen, wie es aus dem Schacht qualmt? Die rauchen da unten alles, was sie in die dunklen Finger kriegen. Und sie drängeln sich dort. Die komprimieren sich nicht durch autoritäre Tonbänder!«
»Sie rauchen ihr Futter, statt es zu fressen, stimmt’s?«, fragte die Ziesel mit einem wohligen Geisterbahnschauer in der Stimme. »Aber warum füttern Sie sie überhaupt? Warum lassen Sie sie nicht einfach verhungern?«
»Haben Sie eine Ahnung, was dann geschieht?«, fragte Bruhns. »Was, wenn sie ernsthaft böse werden? Wenn sie doch einen Weg finden, heraufzukriechen? Oder gar einen Weg, die anderen hier oben zu befreien? Nein, besser, man kriegt sie alle auf einmal, überraschend – wamm! Und exitus.«
Fyscher sah sich verstohlen um. »Hören sie uns nicht?«
»Vielleicht hören sie uns. Aber die hier oben sind so albern, die können nichts ausrichten. Neulich habe ich einen Traum von Sigmund Freud getroffen, der war dabei, alle anderen zu analysieren! Die hier oben, ha! Denen könnte ich direkt ins Gesicht schreien, dass …« Er brach ab. »Aah! Allerverehrtester Traumwächter. Vielen Dank!«
Damit nahm Bruhns dem Alten einen Sack ab und begann, die Käfige abzuschreiten. Vor jedem Käfig griff er in den Sack, holte eine Handvoll Dinge heraus und warf sie durch das Gitter: bunte Luftballons, Strandsand, Gummibärchen, Torferde, Pizzastücke, rosa Glitzerstifte, Aufkleber, Spiegelscherben, Parfüm, Kartoffelchips, Himbeeren, Hosenknöpfe … Frederic sah, wie die Träume einer nach dem anderen zu Boden schwebten, ohne sich zu entknäueln. Er beobachtete, wie sie rasch ein paar Chips oder ein paar Tropfen Parfüm fraßen und wieder zurückkehrten an die jeweilige Käfigdecke. Bruhns betrachtete die Träume mit einem unechten, wohlwollenden Breitgrinsen auf seinem Zahngesicht. »Sie sind wie meine Kinder«, sagte er und seufzte.
Der Alte nickte. Glaubte er Bruhns? Hatte er wirklich nichts gehört von dem, was der HD eben gesagt hatte? Und exitus.
»Guten Tag, Frederic«, sagte Bruhns, der inzwischen vor dem Käfig angekommen war, in dem Frederic an der Wand lehnte. »Willst du mir nicht Guten Tag sagen?«
Frederic ging zum vorderen Gitter und stellte sich vor Bruhns hin: so aufrecht er konnte, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sah ihm direkt in die leeren, kalten Augen; wortlos. Ich bin Hendriks Sohn, dachte er. Ich bin stark und ich brauche nichts zu
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