Nacht der Seelen - Armintrout, J: Nacht der Seelen
dass ich mir nicht erklären konnte, woher diese Verletzungen stammten. Erst als Nathan auf dem Rücken lag – er war durch das Drehen ohnmächtig geworden –, nahm ich eine von den großen Altarkerzen vom Nachttisch, um besser sehen zu können. Ich sah mich im Raum nach einem Lichtschalter um, fand aber keinen. Ich fragte mich, ob es hier überhaupt Strom gab.
Zögernd hob ich die Kerze in die Höhe, um den kreisrunden Lichtschein über dem Bett zu vergrößern. Als ich es sah, ließ ich sie fallen.
Nathan war gehäutet worden. Man konnte es nicht anders ausdrücken. Von seinem Schlüsselbein bis zu den Kniescheiben bestand er aus nichts als Muskeln. An einigen Stellen schienen die Knochen durch. Ich versuchte, die Galle hinunterzuschlucken, die mir im Hals aufstieg, aber es gelang mir nicht. Ich beugte mich vornüber und übergab mich auf den Boden, auf meine Schuhe. Ich wünschte, ich müsste nie wieder meinen Schöpfer anschauen und ihn so sehen. Aber ich musste ihn anschauen, um herauszufinden, wie wir ihn hier herausbringen und sein Leben retten konnten.
Mir liefen die Tränen über die Wangen, als ich endlich den Mut zusammengenommen hatte und ihn noch einmalbetrachtete. Im Kurs Allgemeine Anatomie beginnt man damit, den Leichnam von außen nach innen zu sezieren. Ich erinnerte mich daran, wie es sich angefühlt hatte, als ich damals mit meinem Skalpell einen Einschnitt machte, der die Haut teilte, um daraufhin das Fleisch in breite Streifen zu schneiden, die abgenommen werden konnten. Fast hätte ich mich wieder übergeben. Wie lang hatte das gedauert? Wie lange schon hatte er so leiden müssen? Die Schmerzen mussten unvorstellbar gewesen sein.
Das Schlimmste war, dass sie es nicht bei der Häutung hatte bewenden lassen. Es schien so, als sei sie bis zu den Knien gekommen und hätte sich dann gelangweilt abgewandt, nur um an seiner Brust mit den Muskeln weiterzumachen. Seine Rippen lagen offen da. Hinter den blutverschmierten Knochen sah ich seine beiden Herzen schlagen. Seine Lunge, seine Leber, alles lag dort ungeschützt.
Ich weiß nicht, wann oder warum ich darauf gekommen war, dass Dahlia die Verantwortung für diese unglaubliche Tat tragen musste, aber ich war mir dessen hundertprozentig sicher.
„Wie gefällt dir meine Arbeit?“
Als ich ihre Stimme hinter mir hörte, selbstgerecht, herablassend und meinen Verdacht bestätigend, ging ich auf sie los.
12. KAPITEL
Souleater
Dahlia wurde blass und trat einen Schritt zurück, als ich auf sie zu lief. Ich wünschte, ich hätte die Werkzeuge gehabt, die sie benutzt hatte, um Nathan zu quälen. Ich hätte sie ihr in den Hals gerammt. Ich hätte sie in Stückchen zerschnitten, die nicht starben, sondern sich nur in Todesqual auf dem Boden wanden. Diese Stücke hätte ich, eines nach dem anderen, mit meinem Absatz zerquetscht.
Aber ich kam nicht an sie heran. Sie hielt eine Hand ausgestreckt und schlug mich zurück, so wie ich draußen die menschlichen Wesen zurückgehalten hatte. Angesichts ihrer Macht fühlte ich mich so schwach und ohnmächtig wie die Menschen im Garten. Sie hatte mir schon zuvor Dinge angetan, aber nie zuvor hatte ich gespürt, wie unfassbar gefährlich sie war.
„Ich nehme an, ich hätte das auch mit meinen magischen Kräften geschafft“, schnurrte sie und nickte mit dem Kopf auf Nathan. „Aber ich mache mir gern die Hände schmutzig.“
Ich stand wieder auf und brachte „beiseite“ zwischen den Zähnen hervor. Ich stellte mir das Wort wie ein Rasiermesser vor, aber sie wehrte es ab und schlug mich wieder zu Boden.
Sie kam auf mich zu stolziert. „Nun, erst einmal mache ich mir gern die Hände schmutzig, wenn es Spaß macht.“
Nur durch mich war Nathan vor ihr geschützt. Wenn ich sterben musste, dann wollte ich wenigstens versuchen, ihn zu beschützen. „Beiseite“, versuchte ich es wieder, und nochmals schüttelte sie meinen Befehl ab.
„Bitte, du Zicke. Glaubst du etwa, du kannst mir etwasantun? Ich wette, du glaubst, du wüsstest alles, nur weil du mein kleines Büchlein in die Finger bekommen hast.“ Wieder hob sie die Hand und sammelte eine Kugel knisternder lilafarbener Energie. Sie ließ sie auf mich los, und es war, als ob jeder Zentimeter meiner Haut aus Fiberglas bestand. Bei jeder kleinsten Bewegung, bei jedem Atemzug, splitterte und prickelte es.
„Das ist Amateurkram“, fuhr sie fort und sah auf mich herab wie jemand eine Maus betrachten würde, die von einer Falle zermalmt worden war:
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