Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nacht über Juniper

Titel: Nacht über Juniper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Cook
Vom Netzwerk:
Ich bin fertig.« Shed nickte. Er wollte nur noch, daß diese Nacht vorbei war. Zu seinem Ekel hatte er damit begonnen, die Obdachlosen als Sachen anzusehen und sie dafür zu hassen, daß sie an so un- zugänglichen Orten starben.
Er hörte einen leisen Ruf und drehte sich rasch um. Raven hatte einen. Das war genug. Er lief zum Wagen zurück.
Raven wartete schon auf dem Bock auf ihn. Shed stieg unbeholfen auf, kauerte sich zusam- men und wandte das Gesicht vom Wind ab. Raven gab den Maultieren die Zügel. Der Wagen war halb über die Brücke über den Port hinüber, als Shed ein Stöhnen hörte. »Was?« Eine Leiche bewegte sich! »Oh. Oh, Scheiße, Raven…« »Erstirbt sowieso.«
Shed kauerte sich wieder zusammen und starrte auf die Häuser am Nordufer. Er wollte auf- begehren, streiten, alles tun, um seinen Anteil an dieser Abscheulichkeit zu leugnen. Eine Stunde später sah er wieder auf und erkannte nichts wieder. Einige große Häuser mit lichtlosen Fenstern ragten beiderseits der Straße in weiten Abständen auf. »Wo sind wir?« »Beinahe da. Eine halbe Stunde noch, wenn die Straße nicht zu sehr vereist ist.« Shed stellte sich vor, daß der Wagen in einen Graben rutschte. Was wäre dann? Ließen sie alles zurück und hofften, daß man sie nicht aufspüren würde? Selbsthaß wurde von Furcht abgelöst.
Dann begriff er, wo sie sich befanden. Dort oben gab es nichts mehr, bis auf die verfluchte schwarze Burg. »Raven…«
»Was ist los?«
»Du fährst zur schwarzen Burg.«
»Was hast du denn gedacht?«
    »Dort lebt jemand?«
»Ja. Was hast du denn?«
Raven war fremd hier. Er konnte nicht begreifen, wie sehr sich die schwarze Burg auf Juni- per auswirkte. Menschen, die ihr zu nahe kamen, verschwanden einfach. Juniper zog es vor, die Existenz dieses Ortes nicht zur Kenntnis zu nehmen. Shed stammelte seine Ängste hervor. Raven zuckte die Achseln. »Da sieht man deine Un- wissenheit.«
Durch den Schnee sah Shed den dunklen Umriß der Burg. Hier auf dem Kamm fielen die Flocken weniger dicht, aber der Wind wehte heftiger. Schicksalsergeben murmelte er: »Dann laß es uns hinter uns bringen.«
Die Silhouette löste sich zu Brüstungen, Satteldächern, Türmen auf. Nirgendwo war Licht zu sehen. Raven hielt den Wagen vor einem hohen Tor an und ging zu Fuß darauf zu. Er betä- tigte einen großen Klopfer. Shed kauerte sich zusammen und hoffte, daß niemand kam. Das Tor schwang sofort auf. Raven kletterte wieder auf den Wagenbock. »Los, Mulis.« »Du willst doch wohl nicht da rein?«
»Warum nicht?«
»Kommt nicht in Frage. Nein.«
»Halt’s Maul, Shed. Wenn du dein Geld willst, hilfst du beim Abladen.« Shed unterdrückte ein Aufwimmern. So hatte er sich den Handel nicht vorgestellt. Raven lenkte den Wagen durch das Tor, dann nach rechts und hielt unter einem weiten Tor- bogen an. Eine einzelne Lampe kämpfte gegen die Dunkelheit an, die den Durchgang erfüllte. Raven sprang ab. Shed folgte ihm mit kreischenden Nerven. Sie holten die Leichen vom Wa- gen und hievten sie auf Steinblöcke in der Nähe. Dann sagte Raven: »Geh wieder zum Wagen zurück. Und halt den Mund.«
Der eine Körper regte sich. Shed ächzte. Raven kniff ihn schmerzhaft in sein Bein. »Still.« Eine schattenhafte Gestalt erschien. Sie war hochgewachsen, dünn, in lose fallende schwarze Hosen und ein Kapuzenhemd gekleidet. Kurz überprüfte sie jeden Leichnam und schien er- freut. Sie drehte sich zu Raven um. Shed erhaschte einen Blick auf sein Gesicht aus scharfen Kanten und Schatten, olivglänzend, kalt, mit zwei schwach leuchtenden Augen. »Dreißig. Dreißig. Vierzig. Dreißig. Siebzig«, sagte es. Raven erwiderte: »Dreißig. Dreißig. Fünfzig. Dreißig. Einhundert.« »Vierzig. Achtzig.«
»Fünfundvierzig. Neunzig.«
»Vierzig. Neunzig.«
    »Abgemacht.«
Sie feilschten! Raven hatte kein Interesse, sich wegen der Alten zu streiten. Das dünne We- sen wollte für den Jungen nicht mehr bezahlen. Aber der Mann, der im Sterben lag, war ein Verhandlungsobjekt.
Shed sah, wie das dünne Wesen Münzen vor den Füßen der Leichen abzählte. Das war ein verdammtes Vermögen! Zweihundertzwanzig Silberstücke. Damit konnte er die Lilie ab- reißen und neu errichten lassen. Er konnte den Stiefel ein für allemal hinter sich lassen. Raven fegte die Münzen in seine Manteltasche. Er gab Shed fünf davon. »Ist das alles?«
»Ist das etwa kein guter Nachtlohn?«
Es war sogar ein beachtlicher Monatslohn. Aber nur fünf von… »Beim letzten Mal waren wir

Weitere Kostenlose Bücher