Nachtgieger
einem offiziellen Auftrag unterwegs und musste Autorität und Kompetenz ausstrahlen.
Sieglinde Silberhorn suchte sich einen freien Platz in der Bahnhofscafeteria und bestellte sich eine große Cola mit Eiswürfeln. Sie legte sich einen genauen Plan zurecht, wie sie vorgehen wollte, und machte sich geschäftig Notizen. Es galt zu entscheiden, an welchen markanten Stellen innerhalb des Bahnhofsgeländes sie das Foto von Kati Simmerlein vorzeigen wollte.
Sie würde Gerd Förster nicht enttäuschen und jeden Stein umdrehen. Wenn die junge Frau sich hier aufgehalten hatte, würde sie es herausfinden. Entschlossen nahm die Polizistin ihre Aufgabe mit gestrafften Schultern in Angriff.
Mandy Bergmann und Gerd Förster wurden unterdessen von ihrem Navi zur Eremitageallee 17 gelotst. Sie bogen von der breiten Straße, die weiter zur Eremitage führte, in einen schmalen, gepflasterten Weg ein und steuerten auf ein steinernes Portal zu, dessen schmiedeeiserne Tore weit geöffnet waren.
Gerd Förster hätte seiner Kollegin die Eremitage gerne gezeigt oder wenigstens im Ostflügel der Orangerie einen Kaffee mit ihr getrunken, doch dafür war leider keine Zeit. Die Eremitage war eine einzigartige historische Parkanlage mit spektakulären Wasserspielen. Zu dem Ensemble gehörten auch das alte Schloss, die Orangerie mit dem Sonnentempel und ein Ruinentheater. Im Jahre 1735 hatte Markgraf Friedrich seiner Gattin Wilhelmine die Eremitage zum Geschenk gemacht. Heute fand im Park jedes Jahr ein rauschendes Sommernachtsfest statt.
An der rechten Säule des Portals war ein mit Patina überzogenes, ovales Messingschild angebracht, auf dem in dunklen, verschnörkelten Buchstaben „Seniorenresidenz Wilhelmine“ zu lesen war. Ein Pfeil wies zu einem Parkplatz.
Die Kommissare schauten sich verblüfft an.
„Ein Täter, der in einem Altenheim lebt?“, staunte Mandy.
„Vielleicht handelt es sich bei dem Mann um einen Angestellten und nicht um einen Bewohner“, mutmaßte Gerd Förster. „Wir werden sehen.“
Es war offensichtlich ein Pflegeheim der nobleren Sorte. Sie stiegen aus ihrem Dienstwagen und blickten auf einen gepflegten Rasen, auf dem sich alter Baumbestand in den Himmel erhob, der sich ein weites Stück bis zum Hauptgebäude erstreckte.
Verteilt auf dem Vorplatz, umgeben von Rosenbüschen, waren Sitzgelegenheiten aufgestellt, die zum Verweilen einluden. Auf einer weiß lackierten Bank mit geschwungener Lehne, neben einer altmodischen Vogeltränke, saß eine alte Dame, in deren Schoß eine Strickarbeit ruhte. Sie schien sie völlig vergessen zu haben und starrte in Gedanken versunken vor sich hin. Mandy tat sie leid. Sie machte einen so verlorenen, einsamen Eindruck.
Die Kommissare näherten sich auf einem gewundenen, kiesbestreuten Pfad einer imposanten Villa, die mit Erkern und Türmchen verziert war und den Eindruck eines Herrenhauses vermittelte.
Im Eingangsbereich, dessen Parkett bereits abgetreten war und den genau in der Mitte der hohen, gewölbten Stuckdecke ein riesiger Kronleuchter zierte, meldeten sie sich am Empfang, wiesen sich aus und erklärten, dass sie mit Ernst Schönleben sprechen wollten.
Die Dame am Empfang vergewisserte sich, dass die Kriminalpolizei mit dem Herrn sprechen durfte. Dann rief sie eine Altenpflegerin herbei, die sie zu Herrn Schönleben bringen sollte. Die Pflegerin führte die Beamten über eine breite Treppe in den ersten Stock.
„Ist Herr Schönleben ein Bewohner?“, wollte Mandy von der hilfsbereiten jungen Frau wissen.
„Ja, natürlich, er wohnt schon seit vielen Jahren hier“, berichtete sie. „Ich versuchte ihn vorhin zu überreden, sein Zimmer zu verlassen und vor der Kaffeetafel ein wenig mit mir im Park spazieren zu gehen. Aber er wollte lieber in seinem Zimmer bleiben. Erwarten Sie nicht, dass er mit Ihnen spricht. Und regen Sie ihn bitte nicht auf. Er ist sehr sensibel und fürchtet sich schnell.“
Sie traten in ein abgedunkeltes, geräumiges Zimmer, das – abgesehen von einem funktionalen Pflegebett – mit persönlichem, altmodischem Mobiliar eingerichtet war. Eine zusammengesunkene Gestalt saß in einem Ohrensessel am halb geöffneten Fenster. Die Gardine bauschte sich leicht im Herbstwind.
„Hallo Herr Schönleben, Sie haben Besuch!“, rief die Pflegekraft aufmunternd. „Schauen Sie mal.“
Es erfolgte keinerlei Reaktion. „Herr Schönleben?“
Der Mann drehte ein wenig seinen Kopf und seine trüben, alten Augen schienen durch sie
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