Nachtgieger
Augen, die türkisgrün leuchteten.
Frauen mochten keine rothaarigen Männer, das hatte er bereits zu seinem Kummer erfahren müssen. Während die anderen sich im Hochsommer unbekümmert kopfüber in die eiskalte Wiesent stürzten, saß er im Schatten mit einem Strohhut auf dem Kopf und musste sich ständig eincremen, mit Lichtschutzfaktor 30, wie für Babys. Die Mädchen fanden das memmenhaft.
So hatte Clemens den Entschluss gefasst, sich den unerschrockenen, mutigen Jägern anzuschließen, um etwas für sein unterentwickeltes Selbstbewusstsein zu tun. Mit einer Waffe in der Hand galt man schließlich als ganzer Kerl. Inzwischen hatte er den Rang des Jungjägers erreicht und durfte allein losziehen.
Er nahm einen Schluck von dem heißen, süßen Tee, den seine Mutter für ihn gekocht hatte, und blinzelte über die weiten Wiesen und Maisfelder, die sich in der Dunkelheit unter ihm ausbreiteten. Der milchige Mond erschien immer wieder zwischen den träge dahinziehenden Wolken und tauchte die Natur in ein sanftes Dämmerlicht. Hinter dem Hochsitz befand sich der dichte Wald, aus dem ab und zu natürliche Geräusche drangen. Trotzdem war Clemens ein wenig unheimlich. Viel lieber würde er jetzt in seinem warmen Bett liegen, als auf dem Jägerstand zu frieren und sich zu gruseln. Er wollte jedoch zu gern die abweisende, ihn von oben herab behandelnde Gerdi, eine Bedienung in der Wirtschaft Zur Grünen Au in Walkersbrunn, mit seinem Jägerlatein beeindrucken.
„Von nichts kommt nichts“, predigte seine Mutter immer.
Er spähte nach Schwarzwild aus. Keiler und nicht führende Bachen durften im September geschossen werden. Die Tiere traten in Rotten immer dort auf, wo man sie nicht vermutete, und wühlten sich gerne durch weite Maisfelder. Sie wurden mittlerweile wirklich zur Plage. Wenn er heute Nacht wenigstens ein Wildschwein erlegen könnte, wären ihm Lob und Anerkennung am Jägerstammtisch sicher. Schwarzwild schoss man mit Kugeln – die Repetier-Hebelwaffe stand deshalb griffbereit neben ihm.
Plötzlich fuhr Clemens hoch und lauschte in die Dunkelheit. Er hatte Geräusche gehört, nicht weit von seinem Standort. Da, wieder! Jetzt konnte er Schritte vernehmen, die sich leise und langsam dem Hochsitz näherten.
Lähmende Furcht kroch von seinen steifen Beinen hoch in seine Brust. Er begann zu zittern. Sollte er rufen, um sich Gewissheit zu verschaffen, oder sich ganz still verhalten? Es bestand Hoffnung, dass er auf seinem Platz unentdeckt blieb. Vielleicht schlich ein Wilderer durch die Gegend, der an einer Begegnung kein Interesse haben konnte.
Jetzt begann jemand bedächtig, Schritt für Schritt, auf den Jägerstand zu klettern. Clemens geriet in Panik. Durfte er mit seinem Gewehr in Notwehr auf Menschen schießen? Er hatte keine Ahnung. In seinem Rucksack befand sich ein scharf geschliffenes Jagdmesser. Er wühlte hektisch in den Tiefen seiner Tasche. Seine Nervosität steigerte sich, die bedrohlichen Schritte auf den Holzstreben näherten sich unvermeidlich, dann fiel ihm der Rucksack aus der Hand und landete mit einem gedämpften Geräusch auf dem weichen Waldboden.
Jetzt war er verloren. Seine vom Schweiß feuchten Hände wollten nach der Waffe greifen, als knapp unter ihm eine bekannte Stimme ertönte: „Mensch, Clemens, wenn du hier so randalierst und deinen Rucksack durch die Gegend wirfst, wirst du das Wild verscheuchen. Jetzt ist es erstmal vorbei mit dem Jagdglück.“
Clemens seufzte erleichtert auf: „Du bist es, ich dachte schon, ein Wilderer hätte es auf mich abgesehen, oder noch schlimmer, der Mörder der alten Apollonia Vierheilig sucht nach einem neuen Opfer.“
Der Mann machte es sich auf dem breiten Sitz neben dem Jungjäger bequem und reichte ihm einen silbernen Flachmann: „Trink einen Schluck, Clemens, es ist alles in bester Ordnung, beruhige dich. Ich konnte nicht schlafen und wollte nach einer Wildschweinrotte Ausschau halten, die fressen nachts
alles kaputt. Das ist Apfelschnaps, der wird dir guttun. Ich habe dich im Mondlicht hier oben sitzen sehen und dachte, ich schaue mal vorbei.“
Clemens entspannte sich und trank einen kräftigen Schluck von dem Schnaps. Er brannte in seiner Kehle. Dann fragte er: „Du bist doch nicht mehr sauer wegen gestern Abend? Das war nur ein Scherz.“
Der Mann neben ihm versicherte: „Nein, natürlich nicht, kein Problem, du alter Schlagg, wir sind schließlich Jagdbrüder. Aber schau mal, da drüben, kommt da nicht ein gewaltiger Keiler
Weitere Kostenlose Bücher