Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
Weder war ihr Leben in Gefahr noch das von Syd. Allmählich wurde es Zeit für die Wahrheit.
»Ich bin nicht blöd«, erklärte sie.
Cael setzte die Maske ab, schüttelte den Kopf und ließ kleine Tröpfchen aus seinen Haaren regnen. Er war einen Kopf größer als sie, er war nass und durchtrainierter als jeder Mann, mit dem sie je zusammen gewesen war. So triefnass und fast nackt sah er zum Anbeißen aus. Er wischte das Wasser ab, das ihm übers Gesicht lief. »Das habe ich auch schon festgestellt.«
»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie. »Hör auf, mich wie deine Gefangene zu behandeln.«
»Aber das bist du, ob es dir gefällt oder nicht.«
»Stell dich nicht so stur«, murmelte sie verärgert. Sie versuchte auf ihn zuzugehen, Waffenstillstand zu schließen. »Ihr seid die Guten, okay? Das habe ich schon begriffen. Ich kann ein Puzzle zusammensetzen. Larkin ist ein
Fiesling, und er hat irgendwas Schmutziges vor. Ihr wollt ihn auffliegen lassen. Ich hab’s kapiert.«
Seine Miene blieb völlig beherrscht. »Das freut mich, aber es ändert nichts.«
Wahrscheinlich würde sie gleich explodieren. Immer musste er alles so kompliziert machen. »Warum schwimmst du nicht da drüben?«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen, und schwenkte in einem weiten Bogen den Arm.
»Mir gefällt es hier.«
»Ich kann dir das Leben leichter oder schwerer machen.«
»Das gilt auch umgekehrt.«
Er trieb sie noch zum Wahnsinn. Sie schnauzte ein letztes »Blödsack!«, dann setzte sie die Tauchermaske auf, drehte ihm den Rücken zu und tauchte wieder unter. Sogar unter Wasser konnte sie ihn lachen hören, bevor ihr ein dumpfes Klatschen verriet, dass er ebenfalls abgetaucht war. Sie ließ sich auf dem Wasser treiben, ohne zu schwimmen oder zu paddeln, fast wie tot. Sie wollte Cael vertrauen können; und sie wollte, dass er ihr vertraute. War das wirklich zu viel verlangt? So trieb sie im Wasser, versuchte zwischendurch einen grellbunten Fisch zu fassen, der hastig entfloh, und schwebte minutenlang scheinbar losgelöst dahin. Sie gab sich alle Mühe, alle Sorgen, alle Gedanken auszuschalten. Das Problem war, dass sie sich nicht wirklich treiben lassen konnte, weil dann regelmäßig alte Erinnerungen auftauchten und sie sich in einer anderen Zeit, einem anderen Vertrauensmissbrauch verlor.
Es überraschte sie, wie schnell und leicht ihre Gedanken die Jahre zurückdrehten. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass ihr die Enttäuschungen nach so vielen Jahren immer
noch so zusetzten. Ständig rechnete sie damit, verletzt oder ausgenutzt zu werden, und das verhinderte, dass sie sich irgendwem außer ihren engsten Vertrauten, namentlich Syd und Al, öffnete. Sie ließ niemanden an sich heran und sich selbst nie so gehen, dass irgendwer ihr Herz brechen konnte. Kein Mann und keine Freundin.
Um Dylan oder auch ihren Vater trauerte sie nicht, um Michelle sehr wohl. Jenner bezweifelte, dass die Frau, zu der sie mittlerweile geworden war, und die Frau, die Michelle jetzt war, noch etwas gemeinsam hatten, aber plötzlich vermisste sie ihre alte Freundin so intensiv, als hätte sie sich erst gestern mit ihr zerstritten.
Nach dem Stress der letzten Wochen erschien es ihr plötzlich kleinlich, ihr diese längst vergessenen Kränkungen so lange nachzutragen. Michelle war sehr lange ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen, und auch wenn diese Zeit längst vergangen war, selbst wenn sie die Jahre nicht zurückdrehen konnte, hatte Michelle ihr Leben damals bereichert. Sie würde keinen einzigen Tag davon missen wollen.
Vor Jahren hatte sie sich von Michelle gelöst, ohne sich noch einmal umzudrehen. Würde sie Cael genauso leicht hinter sich lassen können wie ihr einstiges Leben, wenn das hier vorbei war (und sie war mit jedem Tag sicherer geworden, dass sie und Syd alles unbeschadet überstehen würden)? Würde sie ihn aus ihren Gedanken und, verdammt noch mal, ja, aus ihrem Herzen verbannen können?
Würde sie überhaupt eine Gelegenheit dazu bekommen? Hätte sie die Wahl? Wahrscheinlich würde sie eines Morgens aufwachen, und er wäre genauso unvermittelt aus ihrem Leben verschwunden, wie er darin erschienen war.
Sie dachte noch einmal an Michelle, an ihre Feiern, ihre Streits und Gespräche, und plötzlich musste sie lächeln. Die guten Zeiten hatten die schlechten eindeutig überwogen, und obwohl sie damit abgeschlossen hatte, hatte sie nichts davon vergessen. Sie gehörten zu ihr, auch wenn sie sich seit damals völlig verändert
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