Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
dennoch kann die Erinnerung an jene Nacht zurückkommen. Es braucht nur einen Anlass, ein starkes Beben der Seele, um einen Erdrutsch auszulösen und das Verschüttete freizugeben.«
Es fiel Lorena schwer, die Augen zu öffnen, doch als ihr Blick auf die Uhr fiel, sprang sie mit einem Satz aus dem Bett. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie musste sich beeilen, um noch einmal mit Großmutter reden zu können, bevor sie zu ihrem Flug zurück nach London aufbrechen musste.
Verschlafen tappte sie an der Wand entlang zum Bad. Bruchstückhaft kehrte die Erinnerung an den Verlauf der Nacht in ihr Gedächtnis zurück. Sie starrte sich im Spiegel an, während sich ihre Wangen rot färbten.
Was hatte sie getan? Zu welch Zügellosigkeiten hatte sie sich hinreißen lassen?
Auch nicht schlimmer, als sich mit Noah in seinem Bett zu wälzen.
Doch!
Wirre Szenen tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, die sie dort nicht finden wollte. Sie sah sich und Raika in zwei sexy schwarze Kleider gehüllt, die sie irgendwo auf dem Kiez gekauft hatten, nachdem Raika ihrer Begleiterin unmissverständlich klargemacht hatte, dass sie sich in ihrem momentanen Aufzug nicht weiter mit ihr sehen lassen würde.
Dann trieben sie wie zwei führerlose Boote durch die Nacht. Oder war das Bild falsch? Hatten sie sehr wohl einen Antrieb. Einen sehr starken Trieb, der sie in die Bars und zu den hungrigen Männern drängte. Lorena glaubte noch immer, ihren Geruch in der Nase zu haben. Sie stanken nach Schweiß oder billigem Deodorant und vor allem nach ihrer Lust. In ihrer menschlichen Gestalt konnte sie so etwas nicht riechen, doch hatte sie sich in den Nachtmahr verwandelt, dann sah, hörte und vor allem roch sie Dinge, die sonst verborgen waren. Und diesen Männern war die Lust auf billiges Vergnügen geradezu aus allen Poren gedrungen.
Warum nur hatte sie das in dieser Nacht so unwiderstehlich angezogen? Warum war sie Raika gefolgt, hatte getrunken, gelacht und getanzt und die Männer in den Wahnsinn getrieben. Zuerst waren sie im Docks gewesen, einer großen Disco am Spielbudenplatz. Unter den zuckenden bunten Lichtern bewegten sich die beiden hinreißenden Frauenkörper im Rhythmus der Musik, während die Bässe in ihren Eingeweiden vibrierten. Männer scharten sich um sie, versuchten, ihnen nahe zu kommen, um sich wenigstens ein paar Taktschläge zusammen mit ihnen zu bewegen. Lorena beobachtete Raika bei ihrem Spiel, das sie perfekt beherrschte. Sie lockte, machte Hoffnung, schenkte ein Lächeln und verstieß dann ebenso schnell wieder, um sich anderen Männern zuzuwenden.
Dann waren sie weitergezogen. In die Bars, in denen fast nackte Frauen in hohen Schuhen ihren Körper lasziv um Stangen wanden. Je schöner und jünger die Mädchen und je weniger bekleidet sie waren, desto teurer wurden die Getränke. Raika sprang auf einen der Tische und begann ebenfalls, zum Rhythmus der Musik zu tanzen. Die Männer johlten und applaudierten. Und ehe es sich Lorena versah, hatte Raika ihre Hand nach ihr ausgestreckt und sie ebenfalls hinaufgezogen, wo sie im Spot eines Scheinwerfers ihren Körper zur Schau stellte. Sie hatten mit den Männern getrunken und nicht nur das.
Ja, Raika hatte Lorena ihre Welt gezeigt.
Und es hat Spaß gemacht!
Ja, das hatte es. Sie hatte sich völlig vergessen, doch gerade das lag ihr jetzt schwer im Magen. Sie dachte an Jason, und ihr Gewissen rührte sich.
Weißt du, was er macht, während du nicht da bist?
Nein, aber das ist kein Argument. Außerdem ist er nicht so. Er würde mich nicht betrügen.
Bist du da ganz sicher? Ich denke, er kennt Raika näher, als er dir gegenüber zugeben will.
Lorena wollte ihrem Spiegelbild gegenüber gerade protestieren, als ihr der Blick einfiel, mit dem Jason auf Raikas Erscheinen in der Latino Bar reagiert hatte.
Hatte sich Raika wirklich an ihm vergriffen? Zuzutrauen wäre es ihr. Sie kannte keine Skrupel, und wie hätte er einem Nachtmahr widerstehen können?
Dennoch schmerzte die Vorstellung, sodass sie sie lieber verdrängte und unter der kalten Dusche versuchte, ihre bleiche Gesichtsfarbe und die Ringe unter den Augen zu vertreiben. Endlich war sie angezogen, warf ihre Sachen in den Koffer und fuhr eilig zum Altenheim zurück. Doch auch heute hatte sie kein Glück. Die Pflegerin fing sie auf dem Flur ab und dirigierte sie zum Zimmer des Arztes, der nicht mit sich reden lassen wollte.
»Frau Maschek ist in keinem Zustand, in dem sie Sie auch nur erkennen würde«, behauptete er.
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