Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
so schwärmten. Ihre Zeit mit Tante Ruby, die – nachdem sie sich an ihre etwas skurrile Art gewöhnt hatte – eigentlich ganz spannend gewesen war. Doch ihr Geist weigerte sich, auf der Insel zu bleiben. Er wollte nicht an der unsichtbaren Linie ihres Neuanfangs anhalten. Er glitt über den Kanal nach Hamburg und immer tiefer in die Vergangenheit.
Lorena erwachte spät in der Nacht in ihrem Körper des Nachtmahrs. Sie erhob sich und ging zur Tür, obwohl sie wusste, dass der Riegel vorgeschoben und der Stromkreis geschlossen war. Resigniert kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wo ihr Blick auf das alte, ledergebundene Buch fiel, dessen Seiten sich Nacht für Nacht mit immer mehr Schmerz und so vielen verdrängten Geheimnissen füllten. Lorena setzte sich und schlug es auf. Je mehr sie sich in das Geschriebene vertiefte, desto mehr Erinnerungen stiegen in ihr auf. Lorena nahm den Füller in die Hand und schraubte ihn auf. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Es war wieder Nacht, wie so oft in ihren lückenhaften Erinnerungen, die ihr Unterbewusstsein nur widerwillig preisgab. Lorena legte die Stirn in F alten und konzentrierte sich. Es war eine schlimme Nacht. Sie lauschte dem immer heftiger werdenden Schmerz, der die Erinnerungsfetzen einhüllte. Er erinnerte sie an den Tod ihrer Mutter, und doch war er nicht derselbe, wenn auch nicht weniger peinigend. Konnte es etwas geben, das genauso schlimm war wie dieser Verlust?
Lorena lauschte in sich hinein. Wollte sie diesem Schmerz wirklich auf den Grund gehen und das aufwühlen, was er umschloss, was er verbarg? Würde sie danach jemals wieder ruhigen Schlaf finden? Und doch konnte sie nicht anders. Sie dachte an den Spruch, jemand habe noch ein paar Leichen im Keller. Ein Schauder erfasste sie. War es genau das? Hatte sie noch mehr Leichen im Keller ihrer Seele verborgen?
O bitte nicht!
Zu spät. Die Erinnerungen wallten auf. Lorena schlug eine neue Seite auf und begann zu schreiben.
Aua! Ich sah zu meinen nackten Füßen hinunter. Ich war auf ein Spielzeugauto getreten. Was lag das auch so in der Gegend rum? Ich kickte es wütend in eine Ecke. Meines war es ganz bestimmt nicht. Über das Alter, in dem ich mit Spielzeugautos gespielt hatte, war ich längst hinweg. Und ich spielte auch nicht mit Puppen! Dennoch lag im Wohnzimmer eine halb angezogene Puppe auf dem Sofa, die mir bekannt vorkam. War das nicht mal meine gewesen? Ich ging hinüber und nahm sie in die Hand. Ja, ich erinnerte mich, wie ich mit ihr gespielt hatte, doch nicht ich hatte ihre Haare so zugerichtet! Davon war ich überzeugt.
Lorena stutzte.
Was hat das Kinderspielzeug dort verloren? Ich muss damals dreizehn Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter lebte noch, doch es war in der Zeit, als ich schon begonnen habe, mich einmal im Monat zu verwandeln.
Lorena hörte ein Kinderlachen und dann die Stimme ihrer Mutter. Und plötzlich kam ihr ein Name in den Sinn: Lucy.
Wer war Lucy? Der Stift in der Hand gab ihr die Antwort.
Lucy! Mit der Puppe in der Hand stürmte ich die Treppe hinauf. Meine Mutter war mit meiner kleinen Schwester im Spielzimmer. Ich hielt dem Mädchen die Puppe unter die Nase.
»Warst du das? Hast du meine Puppe so zugerichtet?«
Lucy sah fragend zu mir auf. Im Gegensatz zu mir hatte sie tiefblaue Augen. Goldene Locken umspielten ihr pausbäckiges Gesicht. Wenn sie älter sein würde und der Babyspeck sich verlöre, würde sie eine Schönheit werden, prophezeite zumindest mein Vater immer wieder. Im Gegensatz zu deiner älteren Schwester!, sagte er zwar nicht, aber ich wusste auch so, dass er das dachte. Ich hatte das Gefühl, seit Lucy im Haus war, sah er mich kaum mehr an. Seit drei langen Jahren galt das Lächeln, mit dem er mich früher bedacht hatte, nur noch seiner kleinen Prinzessin.
Meine Mutter nahm mir, die ich vor Zorn bebte, die Puppe aus der Hand. »Du bist doch viel zu alt, um noch mit Puppen zu spielen«, sagte sie mit dieser ruhigen Stimme, die meine Wut meist schnell verrauchen ließ.
»Es ist aber meine!«, widersprach ich.
»Die du ausrangiert und in eine Kiste auf den Dachboden gepackt hast«, ergänzte sie.
»Na und? Das heißt noch lange nicht, dass Lucy sie ruinieren darf. Sie macht einfach alles kaputt. Ich hasse sie!«, schrie ich und stampfte mit dem Fuß auf. Dann fing ich an zu weinen, und auch Lucy plärrte aus Solidarität mit. Meine Mutter tröstete uns beide.
»Nein, du hasst sie nicht. Sie ist deine Schwester und gehört zu unserer
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