Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
erst zum Saum hin etwas auf. Während der seidig glänzende Stoff den Körper blickdicht umschloss, hatte Lisa die Ärmel aus transparentem Material genäht. Ihr tiefschwarzes Haar hatte sie dazu im Nacken mit einem Band aus gleichem Material zu einem Zopf zusammengebunden. »Fantastisch! Wie lange haben Sie dafür denn gebraucht?«
»Ach, fast vier Wochen«, klang Lisa leicht unzufrieden. »Ich wollte es schon eher fertigbekommen, doch irgendwie kam immer was dazwischen.«
»Na, auf jeden Fall gratuliere ich Ihnen zu diesem Stück. Es steht Ihnen hervorragend.«
Lisa freute sich. Sie trug, ungewöhnlich genug bei der Polizei, gerne ausgefallene Kleider. »Ich finde nie was im Laden«, hatte sie Judith einmal anvertraut, was die ihr, eingedenk von Lisas extravagantem Geschmack, sofort glaubte.
Im Besprechungsraum positionierte Lisa ihre Vorgesetzte zielstrebig neben Ritter, der die Karten wieder mit Abstand betrachtete und fragte: »Können Sie alles gut sehen?«
Judith Brunner wusste zwar nicht genau was, nickte aber dennoch.
Dann begann Lisa, ihr Herangehen zu erläutern und Judith konnte sich zunehmend für Lisas Methode erwärmen. Alles erschien ihr nachvollziehbar und verständlich. Außer Lisa hätte das niemand so präzise hinbekommen!
»Sagen Sie schon«, bat Judith Brunner dennoch ungeduldig, »was haben Sie entdeckt?«
»Na ja, in Engersen habe ich knapp fünfzig Begegnungen von Leuten erkannt.« Sie deutete für Judith Brunner nochmals auf die farbigen Markierungen ihrer Karte. »Ich weiß jetzt, wer wann und mit wem zum Stammtisch in die Kneipe ging, wer sich zu welchem Nachbarn zum Klönen auf den Weg gemacht hat, und wer seinen Hund wo ausgeführt hat.«
»Schön, und?«
»Niemand sonst hat einen Mann gesehen, wie er von diesem Zeugen«, sie wies auf eine Stelle, »ungefähr hier«, und zeigte dann auf einen anderen Punkt, unmittelbar daneben, »gesehen wurde.«
Judith Brunners ging zu der Karte und betrachtete Lisas Einzeichnungen. »Sind Sie sicher?« Ihr Blick schweifte über die Papierberge, die Lisa durchgearbeitet hatte.
»Ja. Ich habe es schon zweimal überprüft! Wenn ich die Vernehmungen all der Leute, die wir zu ihrem Aufenthalt auf der alten Landstraße befragt haben, vergleiche, fange ich an, an den Beobachtungen von diesem Manfred Peuker zu zweifeln. Walter Dreyer hatte zum Beispiel einen Zeugen aus Waldau, der am Nachmittag mit seinem Fahrrad Richtung Engersen unterwegs gewesen war, um nach dem Getreide zu sehen. Der alte Bauer konnte zwar nicht viel berichten, da er nicht auf seine Umgebung achtete, doch er schloss nicht aus, ein, zwei Radfahrern oder auch einem Auto begegnet zu sein, einen Fußgänger auf der Landstraße hat er jedoch nicht erwähnt. Zwei weitere Männer haben diese Nicht-Beobachtung quasi bestätigt, da sie genau so ausgesagt haben.«
»Große Klasse«, lobte Judith Brunner ihre Mitarbeiterin. »Hm. Was fangen wir nun damit an? Vielleicht bedeutet das einfach, dass der umherspazierende Kerl sich immer gut verstecken konnte, wenn nur einer der Zeugen ihn bemerkt hat?«
Lisa hob noch einmal hervor: »Dieser Peuker hat den Mann aber gesehen, und das nur circa 300 Meter vom Tatort entfernt. Der Junge – er ist gerade erst achtzehn geworden – hat offensichtlich eine gute Beobachtungsgabe und er hat ihn plastisch beschrieben.«
Judith Brunner musste innerlich schmunzeln, als Lisa Lenz, selbst erst Mitte zwanzig, von einem »Jungen« sprach. Aber sie hatte eine wirklich gute Vorarbeit geleistet. »Prima. Dann können wir ja endlich nach jemandem suchen. Lassen Sie diesen Zeugen bitte herkommen; vielleicht bekommen wir ja eine Phantomzeichnung hin. Und zeigen Sie diesem Peuker auch die Fotos der vorbestraften Sexualstraftäter aus der Gegend. Vielleicht erkennt er ja einen wieder.«
»Wird erledigt«, wandte sich Lisa beflissen zum Telefon.
Judith Brunner räusperte sich. »Warten Sie! Unsere Überlegungen könnten zutreffen. Aber die Tatsache, dass nur ein einziger Zeuge den Mann gesehen hat, kann auch bedeuten, dass dieser Zeuge sich irrt.«
»Oder dass er lügt!« Ritter hielt prinzipiell nicht viel von Augenzeugen, formulierte aber genau, was Judith Brunner dachte.
»Warum sollte er das tun? Oh!«, fiel es Lisa jetzt selbst auf. »Es gibt diesen Spaziergänger gar nicht. Der Zeuge hat ihn erfunden, um von sich abzulenken. Er war’s!«
Judith Brunner nickte. »Darauf wollte ich hinaus. Her mit diesem Peuker. Sofort! Unter Umständen bekommen wir
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