Nachtpfade
nicht ihre Welt.
»Keine rätselhaften Dritten, Evi, bitte! Ich möchte
vielmehr, dass wir Jackys Bild herumzeigen an just jenen Orten, an denen es
Stahlnägel gibt. Kircher in Weilheim und so weiter.«
Evi starrte ihn an. »Du denkst, Jacky haut Nägel in
Bäume?«
»Ja, denk ich.«
»Warum das denn?«
»Weiß ich noch nicht, aber sie war doch laufend im
Wald unterwegs. Und gerade die Frauen in meiner Umgebung lehren mich doch
ständig, dass Frauen sich vom Hasi zur Amazone emanzipiert haben. Warum also
keine Nägel?«
»Aber so seh ich Jacky nicht! Nägel in Bäume. Das sind
doch keine kleinen Streiche. Da gibt’s keine Schmerzgrenze mehr. Keine Moral.
Nichts mehr, was Recht und Unrecht voneinander trennt. So was hätte Jacky nicht
getan.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Ihr wurde nie etwas
anderes vorgelebt. Beziehungen, die auf Verzweiflung beruhen, Aggression und
Alkohol. Sie hatte keine guten Vorbilder, um sich ein Wertesystem aufzubauen.
Sie war verzweifelt, und da greift man auch zu seltsamen Methoden. Und auch
wenn du mich jetzt gleich wieder der Unsensibilität bezichtigen wirst, Jacky
hatte sicher schlechtere Startchancen als andere, aber ein wenig lag es wohl
auch an ihr. Ich kenne Menschen mit viel tragischerer Geschichte, und die haben
es auch gepackt. Vielleicht hatten die bessere Gene, was weiß denn ich. Ich
will nur vermeiden, dass wir das arme Opfer glorifizieren. Ansonsten gebe ich dir
recht. So was hat es früher nicht gegeben. Streiche, einen derblecken, gut –
aber das ist Zerstörung, das ist kriminell und gefährlich.«
»Drum war es Jacky auch nicht. Das glaub ich einfach
nicht. Warum auch?« Evi war nicht zu überzeugen.
»Das, meine Liebe, ist die Frage. Weil sie Erhard
erpressen wollte.«
»Um Geld?«
»Nein, um Zuneigung, um ein Bleiberecht, irgend so
was! So, meine Beste, und jetzt kein Wort mehr. Mir reicht es jetzt. Ich setz
dich zu Hause ab, ja?«
»Ja, okay«, Evi stockte kurz. »Du solltest Kassandra
anrufen.«
»Ja, mach ich später.«
»Nein, jetzt.«
Gerhard zückte sein Handy, und Kassandra ging
tatsächlich ran. Seine Frage, wie es ihr gehe, beantwortete sie mit »Gut«,
seine Frage, ob er sie irgendwo abholen solle, mit »Nein«. Er hörte Kneipengeräusche
im Hintergrund und erfuhr, dass Kassandra einer Einladung des Notarztes gefolgt
war. »Na dann viel Spaß« waren seine letzten Worte, und Evi schenkte ihm einen
vorsichtigen Seitenblick.
»Was ist los?«
»Sie amüsiert sich prächtig, und dir wünsch ich jetzt
auch einen schönen Abend!«
»Jetzt red schon!«
»Nein, das Thema Kassandra geht dich einen feuchten
Kehricht an. Aus, Ende, Ruhe.« Gerhard parkte vor Evis Haus und sagte nochmals: »Schönen Abend!«
»Hmm, danke.«
Irgendwas in diesem »Hmm« veranlasste Gerhard
aufzusehen. Evis Gesicht zu studieren. Sie sah aus wie immer, blendend eben,
aber dennoch sah sich Gerhard genötigt, nachzufragen.
»Du klingst ein bisschen komisch. Was ist los? Wirst
du krank?« Blöde Frage, Evi wurde nie krank, Evi hatte in all den Jahren, in
denen sie zusammenarbeiteten, nie gefehlt.
»Weinzirl, falls du das kürzlich in deinem
Fortbildungsseminar zum Thema Mitarbeiterführung gelernt hast, danke der
Nachfrage. Und wenn das ein Friedensangebot sein soll, von mir aus. Du weißt
selbst am besten, wann du hochfahrend und unerträglich bist. Du musst dich weiß
Gott jetzt nicht empathisch zeigen.«
»Straßgütl«, er verwendete bewusst ihren Nachnamen,
»ich bin nie empathisch. Was ist das überhaupt? Beleidigen lass ich mich
nicht!« Er grinste, und irgendwie hatte er damit das Eis zum Schmelzen
gebracht.
»Weißt du, das mit dem schönen Abend ist so ‘ne Sache.
Manchmal denk ich mir, dass eine schöne Wohnung mit ‘nem großen Balkon einfach
zu wenig ist für einen schönen Abend.«
»Was fehlt? Der Traumprinz, der den großen Balkon mit
seiner Anwesenheit bereichert?«
»Ach, Weinzirl, ihr Männer! Warum glaubt ihr, dass
Defizite immer was mit Männern oder fehlenden Männern zu tun haben müssen?«
»Immerhin hast du nun zugegeben, Defizite zu haben.
Welche, wenn es sich nicht um einen waschbrettbäuchigen hochintellektuellen
Makrobioten oder Veganer handelt?«
Normalerweise hätte Evi nun eine flammende Rede auf
die Berechtigung ihrer gesunden Ernährung angestimmt und über den tieferen Sinn
des Joggens und Nordic Walkings. Aber auch sie war wohl wirklich angeschlagen.
Und müde.
»Es ist, es ist eben, eben alles. Also nicht, dass es
mir
Weitere Kostenlose Bücher