Nachtprogramm
kniffligere Geschichte beizubringen: »Hört zu, vielleicht möchtet ihr vor dem Schlafengehen noch ein paar Sachen packen. Der ehemalige Bischof der Türkei kommt heute Nacht mit sechs bis acht schwarzen Männern. Vielleicht stecken sie Süßigkeiten in eure Schuhe, vielleicht stecken sie euch aber auch in einen Sack und verschleppen euch nach Spanien, oder vielleicht tun sie nur so, als wollten sie euch treten. Wir wissen leider auch nicht mehr, aber wir möch ten, dass ihr Bescheid wisst.«
Das ist die Belohnung dafür, in den Niederlanden zu leben. Als Kind bekommt man diese Geschichte erzählt, und als Erwachsener verkehren sich die Rollen, und man darf sie selber weitererzählen. Als besonderes Bonbon hat die Regierung noch die Legalisierung von Drogen und Prostitution draufgelegt – wie soll man da nicht froh sein, Holländer zu sein.
Oscar beendete seine Geschichte genau vor dem Eingang zum Bahnhof. Er war ein höflicher und interessanter Mensch – und sehr unterhaltsam –, aber als er anbot, bis zur Ankunft meines Zuges zu warten, wimmelte ich ihn unter dem Vorwand ab, ich müsste noch einige Anrufe erledigen. Als ich allein in der riesigen, pulsierenden Bahnhofshalle saß, inmitten tausender höflicher, scheinbar interessanter Holländer, kam ich mir irgendwie zweitklassig vor. Gewiss, die Niederlande waren ein kleines Land, aber es hatte sechs bis acht schwarze Männer und eine wirklich grandiose Gute nachtgeschichte. Als vergleichssüchtiger Mensch fühlte ich zunächst Eifersucht, dann Bitterkeit. Ich näherte mich dem Gefühl offener Feindseligkeit, als ich an den blinden Jäger denken musste, der allein in die Wälder von Michigan stapft. Er mag ein Reh zur Strecke bringen oder im Jagdfieber einem Camper in den Bauch schießen. Er mag den Weg zurück zum Wa gen finden oder ein, zwei Wochen durch die Gegend irren und zuletzt durch deine Hintertür stolpern. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber indem er sich seine Jagderlaubnis an die Brust heftet, inspiriert er zu der Sorte von Geschichten, derentwegen ich letztendlich stolz bin, Amerikaner zu sein.
Der Rooster an der Kette
An dem Abend, als der Rooster geboren wurde, kam mein Vater zu mir ins Zimmer und überbrachte mir persönlich die Nachricht.
Ich war damals elf und nur halb wach, aber ich spürte doch, dass es sich um einen außergewöhnlichen Augenblick unter Männern handelte. Der Pat riarch teilt seinem erstgeborenen Sohn mit, dass ein neuer Spieler ins Team aufgenommen wurde.
Ein Blick durchs Zimmer auf die Vase mit den sorgfältig arrangierten Teichkolben und daneben die Schale mit dem Duftpotpourri hätte ihm sig nalisieren müssen, dass wir beide nicht in der gleichen Mannschaft spielten. Selbst Mädchen beklebten nicht die Steckdosen im Zimmer mit bunten Mustern, doch fand er es offenbar zu schmerzhaft, darüber nachzudenken, und überspielte es einfach. Er ging sogar so weit, mir eine in Plastikfolie eingepackte Zigarre zu geben, auf deren Banderole ES IST EIN JUNGE stand.
Er hatte zwei Zigarren dabei, eine aus Kaugummi f ür mich und eine ech te für sich.
»Ich hoffe, du willst sie nicht hier drinnen rauchen«, sagte ich. »Norma lerweise hätte ich nichts dagegen, aber ich habe gerade erst die Vorhänge imprägniert.«
Die ersten sechs Monate war mein Bruder Paul einfach nur ein knuddeli ges Etwas, danach eine Puppe, die meine Schwestern und ich ganz nach Belieben windeln und bet ütteln konnten. In entsprechende Kleider gesteckt, konnte man leicht über den winzigen Penis hinwegsehen, der wie ein Dosenchampigon zwischen seinen Beinen lag. Mit etwas Fantasie und einigen ausgesuchten Accessoires war er Paulette, die kleine Französin mit dem Schmollmund; oder Paola, die bambina unter der schwarzhaarigen Perücke direkt aus ihrer toskanischen Heimat; oder Pauline, das bunt gescheckte Hippiebalg. Solange er noch ein hilfloses Kleinkind war, ließ er alles mit sich machen, doch mit achtzehn Monaten zerstörte er gründlich die Theo rie, dass man ein Kind zum Schwulsein erziehen kann. Ungeachtet unserer vielen Anstrengungen, behielt die Zigarrenbanderole Recht. Unser Bruder war ein Junge. Er erbte meine Sportausrüstung, immer noch original verpackt, zog mit seinen Kumpels los und spielte, was gerade angesagt war. Wenn er gewann, tolle Sache, und hatte er verloren, war das auch nicht schlimm.
»Aber musst du denn nicht weinen?«, fragten wir ihn. »Nicht einmal ein kleines bisschen?«
Wir versuchten ihm die Vorteile
Weitere Kostenlose Bücher