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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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nahe zu bringen, wenn man sich einmal so richtig ausheulen konnte – die anschließende Erleichterung und das Mitleid, das bei anderen geweckt wurde –, aber er lachte uns nur ins Gesicht. Wir alle heulten wie die Schlosshunde, doch bei ihm war die Wasserpro duktion auf Schweiß und Urin beschränkt. Seine Bettlaken waren vielleicht feucht, aber sein Kopfkissen war immer trocken.
    Gleichgültig in welcher Situation, für Paul ging es immer nur um einen Witz. Eine herzliche Umarmung, ein aufrichtiges Wort der Anteilnahme – in unseren schwachen Momenten fielen wir auf seine Tricks herein und schworen anschließend, ihm nie wieder zu trauen. Als ich mich das letzte Mal von ihm in den Arm nehmen ließ, flog ich von Raleigh zurück nach New York, ohne zu ahnen, dass er mir einen Adressaufkleber auf den Rücken meiner Windjacke gedrückt hatte, auf dem »Hallo, ich bin schwul« stand. Und das nach der ungemein lustigen Beerdigung meiner Mutter.
    Als meine Schwestern und ich schließlich von zu Hause auszogen, schien das der natürliche Lauf der Dinge – junge Erwachsene, die von einer Lebensphase in eine andere eintreten. Unsere Abschiede verliefen relativ schmerzlos, doch Pauls Auszug hatte etwas vom Aussetzen eines gezähmten Tieres in die freie Wildbahn. Er wusste, was man zur Zubereitung einer Mahlzeit brauchte, zeigte aber einen beachtlichen Mangel an Geduld, was das Kochen anging. Tiefkühlgerichte wurden häufig so verzehrt, wie sie aus der Truhe kamen, als handle es sich bei gefrorenen Hamburgerscheiben um ein Eis ohne Stiel. Als ich eines Abends bei ihm anrief, hatte er gerade eine Familienpackung gefrorene Hühnerflügel schräg gegen die Hintertür gestellt. Er hatte vergessen, sie rechtzeitig aufzutauen und versuchte nun, den steinharten Klumpen in drei fünfzehn Zentimeter große Portionen zu zertreten, die er anschließend übereinander stapeln und in den Tischgrill zwängen konnte.
    Ich hörte das unnachahmliche Geräusch eines Stiefels, der auf kristallisiertes Fleisch trifft, begleitet vom schweren Atmen meines Bruders: »Ihr ... verdammten ... Drecksdinger.«
    Am nächsten Abend rief ich wieder an und erfuhr, dass das Fleisch verdorben gewesen war und er sich die ganze Mühe umsonst gemacht hatte. Das Geflügel hatte nach Fisch geschmeckt, also hatte er es in den Müll geworfen und sich zu Bett gelegt. Ein paar Stunden später kam ihm in den Sinn, dass verdorbene Hühnchenflügel immer noch besser waren als gar keine, und er war wieder aufgestanden, in Unterhose nach draußen gegangen und hatte die Reste aus der Mülltonne gefischt und an Ort und Stelle gegessen.
    Ich war entsetzt. »In deiner Unterhose?«
    »Na, was denkst du denn?«, sagte er. »Ich mach mich doch nicht schick, um ein paar nach Fischärschen schmeckende Hühnchen zu essen.«
    Ich war beunruhigt, dass mein Bruder in Boxershorts bei Mondschein verdorbenes Geflügel aß. Ich war beunruhigt, als ich hörte, dass er auf einem Parkplatz ins Koma gefallen war und beim Aufwachen unbekannte Initialen entdeckt hatte, die jemand ihm mit dem Lippenstift auf den Arsch gemalt hatte. Aber ich machte mir nie irgendwelche Sorgen, dass er einmal ohne Geld dastehen würde. Seit der Highschool hat er für sich selbst gesorgt und mit sechsundzwanzig eine sehr erfolgreiche Firma gegründet, die Böden schleift. Die Arbeit ist körperlich anstrengend, aber noch viel ermü dender sind die Feinarbeiten am Schluss, das Schreiben der Rechnungen und Anheuern von Leuten oder die endlosen Diskussionen mit unentschlos senen Kunden. Wenn man ihn fragt, wie er mit allen diesen Leuten klarkommt, streicht Paul die Fähigkeit zum Kompromiss heraus und erklärt: »Manchmal muss man den Schwanz in den Mund nehmen und ihn ein biss chen hin und her schieben. Niemand zwingt dich, was zu schlucken, man muss nur eine Weile dranbleiben. Du verstehst, was ich meine?«
    »Ähm ... ja.«
    In einem Alter, als der Rest von uns kaum die eigene Miete aufbringen konnte, besaß er ein eigenes Haus. Mit zweiunddreißig verkaufte er es wieder und erwarb was Schickeres in einer der besseren Wohngegenden am Stadtrand von Raleigh, ein Haus mit vier Schlafzimmern, in dessen Ein fahrt die Trucks und Geländewagen bis hinunter auf den Rasen standen, der von einer Gartenbaufirma gepflegt wurde. Und das alles mit einer Geschäftsphilosophie, die auf den Grundlagen der Fellatio basierte.
    Paul bezeichnete sein Haus als »das Heim eines durchgeknallten Typen«, aber wenn man sich umsah, schien

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