Nachtprogramm
Esoterikerin fragen, die neben einer Krüppelkiefer stand und sich mit Pauls Patentante unterhielt. Sie war eine große, konservativ gekleidete Frau mit fleischfarbenen Haaren und dazu passend lackierten Fingernägeln. Ihre Sonnenbrille hing an einer Kette um ihren Hals, und sie putzte die Gläser, während sie ihre zahlreichen Fähigkeiten aufzählte. Abgesehen davon, dass sie freitags immer Tarotkarten legte, schien sie auch Krebs, Diabetes und Herzkrankheiten durch Handauflegen an geheimen, schier unzugänglichen Stellen zu heilen. »Ich habe diese Gabe seit meinem siebten Lebensjahr«, sagte sie. »Und glauben Sie mir, ich bin sehr gut in dem, was ich tue.«
Was Hochzeiten betraf, las sie der zuk ünftigen Braut und dem Bräutigam die Zukunft, indem sie sich in deren tiefstes Selbst versenkte und das, was sie dort entdeckte, für einmalige, ganz persönliche Trauschwüre nutzte.
»Also, ich finde das wunderbar«, sagte Lisa.
»Ich weiß«, sagte die Esoterikerin. »Ich weiß.«
Die Marines marschierten in Reih und Glied aus dem Hochzeitserker, und wir übernahmen die Plätze. »Für wen hält diese Frau sich?«, flüsterte Lisa. »Ich wollte doch nur höflich zu ihr sein.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
J. D., der DJ, hing auf der Brücke fest, also begann die Zeremonie ohne den Hochzeitsmarsch vom Band. Lisa fing erwartungsgemäß in dem Moment an zu heulen, als die Braut am Arm ihres Vaters hinter dem Colaautomaten um die Ecke bog. Die Hunde sprangen sofort hinzu, während ich fest entschlossen war, mich nicht dem Zug anzuschließen, sondern über die Schulter der Esoterikerin auf einen schmalen Streifen Ozean blickte, der zwischen den Bäumen hindurch schimmerte. Genau an dieser Stelle war mein Bruder vor zweiundzwanzig Jahren beinahe ertrunken. Wir hatten uns von der Flut hinaustragen lassen und stellten plötzlich fest, dass wir uns auf offenem Meer befanden und immer weiter vom Hotel abtrieben. Normalerweise wagten wir uns nicht so weit raus, und ich war sogleich auf die Küste zu geschwommen, in dem Glauben, mein Bruder sei direkt hinter mir.
»Seid gegrüßt Freunde und Verwandte«, sagte die Esoterikerin. »Wir stehen auf...« Sie schaute zur Braut herüber, die meinen zu kurz geratenen Bruder ein gutes Stück überragte. »Wir stehen auf Zehenspitzen, um heute Nachmittag die Liehe von ... Paul und Kathy zu feiern.«
Er sollte eigentlich gar nicht im Wasser sein, erst recht nicht mit mir. »Du machst ihn noch ganz verrückt«, sagte meine Mutter. »Um Himmels willen, gönn ihm eine Pause.« Der Vorwurf, ich würde meine Schwestern aufziehen, machte mich immer etwas verlegen, aber dass ich es auch bei einem zwölfjährigen Jungen konnte, gefiel mir. Als der ältere Bruder war das mein Job, und ich bildete mir ein, ihn gut zu erledigen. Ich schwamm etwa eine Poollänge und drehte mich um. Aber Paul war nicht da.
»Diese Liebe gibt es nicht... im Supermarkt« , sagte die Esoterikerin. »Man findet sie nicht... unter einem Baum, unter einer ... Muschel und auch nicht in ...« Man sah, wie sie nach einem passenden Versteck suchte. »Auch nicht in einer Schatzkiste, die vor vielen hundert Jahren auf den ... ge schichtsträchtigen Inseln hier vor der Küste vergraben wurde.«
Eine D ünung rollte heran und verschluckte meinen Bruder, von dem nur noch der rechte Arm aus dem Wasser ragte und in Zeichensprache signalisierte: »Ich ertrinke, und du allein trägst die Schuld.« Ich schwamm zu ihm zurück und versuchte mich an den Rettungsschwimmerkurs zu erinnern, den ich vor vielen Jahren im Country Club mitgemacht hatte. Denk nach, ermahnte ich mich. Handle wie ein Mann. Ich versuchte mich zu konzent rieren, aber das Einzige, woran ich mich erinnerte, war der Schwimmlehrer, ein athletischer Siebzehnjähriger, der Chip Pancake hieß. Ich erinnerte mich noch genau an die Sommersprossen auf seinen breiten, bronzefarbenen Schultern und an den wilden Hoffnungsschimmer, als er unter den Teilnehmern nach einem Freiwilligen zur Wiederbelebung suchte. Oh, bitte nimm mich, flüsterte ich. Hier! Sieh doch! Ich erinnerte mich an den Geruch gegrillter Hamburger, der vom Klubhaus herüberzog, an das Stechen der Rettungsweste auf meinem sonnenverbrannten Rücken und an den bit teren Schmerz der Enttäuschung, als Chip sich für Patsy Pyle entschied, der das Erlebnis nachher als »lebensverändernd« beschrieb. Keine Erinnerun gen, mit denen man Leben rettet, also ließ ich die Vergangenheit hinter mir und
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