Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
die vergangenen drei Tage, die er bei Nina verbracht hatte, mehr oder weniger wie eine Handtasche behandelt worden. Ausführen und streicheln. Von Kommandos wie »Komm!« oder »Bei Fuß!« hatte Jack also noch nie etwas gehört. Kaum dass Alexandra die Haustür einen Spalt geöffnet hatte, drängelte sich Jack an ihr vorbei, schoss in wildem Galopp davon und reagierte weder auf ihr Rufen noch auf gellende Pfiffe. Alexandra befürchtete, dass er Ninas Fährte aufgenommen hatte, diese nun kilometerweit verfolgen und, wenn sie Pech hatte, in Kürze die Autobahn entlangjagen würde. Schon am Morgen, als Nina das Haus verließ, war Jack, unempfänglich für Alexandras Tröstungsversuche, minutenlang vollkommen aufgelöst an der Tür emporgesprungen. Um nicht ziellos im Wald herumzuirren undsich die Kehle aus dem Leib zu schreien, beschloss sie, ganz wie ein Hund nun ebenfalls Ninas Autospur zu folgen. Alexandra schwang sich aufs Rad und trat kräftig in die Pedale. Sie hatte das Grundstück kaum verlassen, als sie in weiter Ferne Jacks Bellen hörte. Na also, stellte sie erleichtert fest, so übermächtig war seine Liebe zu Nina nun doch nicht. Keine zwei Weggabelungen weiter sah sie Jack. Er stand mitten auf dem Weg, hatte etwas Längliches im Maul und schüttelte wild den Kopf.
»Hoffentlich ist es kein Tier«, dachte Alexandra voller Ekel. Sie hatte keine Lust, einen zerfetzten Hasen zu beerdigen. Aber es war weder ein Hase noch ein anderes Lebewesen, sondern ein schlammverkrusteter Lumpen, an dem Jack, kaum dass Alexandra ihn erreicht hatte, das Interesse verlor und ihn achtlos vor ihren Füßen fallen ließ. Zu Alexandras Erleichterung ließ sich Jack ohne weiteres anleinen und folgte ihr bereitwillig. Mit der Fußspitze schob sie im Vorbeigehen den Lumpen an den Wegesrand und zog dann kräftig an Jacks Leine, der sich den Stofffetzen erneut schnappen wollte.
»Nein, Jack! Hörst du? Nein!« Es war ihr gleichgültig, ob Jack das Kommando »Nein!« verstand, aber es widerstrebte ihr, fortan bei jeder Gelegenheit »Pfui!« rufen zu müssen.
Ein paar Meter weiter blieb Alexandra wie vom Donner gerührt stehen. Sie kannte diesen Lumpen, denn das winzige Stoffetikett mit dem Schriftzug »Pashmina« verwies eindeutig auf dessen Herkunft. Sie selbst hatte Nina den Schal am Morgen umgelegt, nachdem diese ihn auf dem Tischchen im Flur hatte liegenlassen. Alexandra ließ das Fahrrad fallen, wickelte Jacks Leine um den Lenker und lief zurück. Auch wenn Jack das Tuch ziemlich ramponiert hatte und dessen Farbe vor Schlamm kaum noch erkennbar war, zweifelte Alexandra keine Sekunde daran, dass der jetzt schmutzige Lappen vor wenigen Stunden noch Ninas Hals gewärmt hatte. Außerdemverströmte er noch immer einen Hauch des charakteristischen Dufts, der die Freundin umgab.
»Wo hast du ihn gefunden, Jack?« Der Welpe wedelte nur müde mit dem Schwanz. Als Alexandra ihm den Schal jedoch direkt vor die Nase hielt, glaubte er, sie wolle mit ihm spielen. Also biss er hinein und begann, mit dunklem Knurren daran herumzuzerren. Alexandra hatte einige Mühe, Jack davon zu überzeugen, dass er losließ. Letztendlich griff sie ihm seitlich ins Maul, was den Hund schließlich zwang, die Kiefer zu öffnen. Blitzschnell entzog Alexandra ihm den Schal und hielt ihn am ausgestreckten Arm über ihren Kopf. Mit der anderen Hand kramte sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche. Es zeigte zwar keinen Empfang an, aber das Logo ihres Netzanbieters stand auf dem Display, was eine minimale Chance für ein Telefonat bedeutete. Kaum hatte sie jedoch Ninas Nummer gewählt, verschwand die Netzanzeige gänzlich.
Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Der Morgen war viel zu kühl gewesen, als dass Nina mit offenem Verdeck losgefahren wäre und der Fahrtwind den Schal davongeweht haben könnte. Wenn aber doch, war es unwahrscheinlich, dass sie dies nicht bemerkt hatte. Und sollte es ihr aufgefallen sein, warum hatte sie dann nicht angehalten, um ihn zu holen? Die Marke Pashmina war sündhaft teuer, und auch wenn Nina mit Geld nur so um sich warf, für ihren geliebten Kaschmirschal würde sie sogar auf der Autobahn einen U-Turn in Betracht ziehen. Wie also kam der Schal hierher, und wo genau hatte Jack ihn gefunden? Der Weg war trocken, der Schal aber klebte vor schwarzem Schlamm. Verwundert sah sie auf Jack hinab, der inzwischen platt auf dem Boden lag und sich akribisch den Schlamm von den Pfoten leckte. Sosehr Alexandra auch spekulierte, nichts
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