Nachtsafari (German Edition)
schweifen.
Silke stieß ihn an. »He, hast du mir eigentlich überhaupt zugehört?«
Mit einem halb ratlosen, halb spöttischen Lächeln sah er sie an. »Habe ich, und ich verstehe dich nicht. Das ist Afrika, und hier gibt’s wilde Tiere. Davon hast du doch geträumt. Wie hattest du dir ein Wildreservat denn vorgestellt? Wie im Zoo, wo man Löwenbabys streicheln darf?« Der sarkastische Unterton war unüberhörbar.
Im ersten Moment war sie von seinem Spott getroffen und verstummte gekränkt, aber dann siegte ihre rebellische Natur. »Auf jeden Fall habe ich nicht damit gerechnet, dass ich beim Grillen von einer Raubkatze angefallen werden könnte«, fuhr sie ihn aufgebracht an. »Oder von Hyänen. Oder dass die Möglichkeit, von einem Elefanten zu Brei getrampelt zu werden, eine durchaus reale ist und Löwen angeblich Weiße bevorzugen, weil sie zarter sind als Schwarze.« Ihre Stimme wurde schrill.
»Ach, so drastisch wird’s schon nicht kommen. Sieh das Ganze doch einfach als aufregendes Abenteuer …«, begann er, aber Silke stoppte ihn mit einer Handbewegung.
»Hör auf. Versuch nicht, mich zu überreden. Das wird dir nicht gelingen.«
»Lass mich doch mal ausreden«, sagte er ruhig. »Es stimmt, es ist manchmal gefährlich, und Angst zu haben, wenn du mit Elefanten konfrontiert wirst, ist mehr als legitim. Ehrlich gesagt, wäre es dumm, keine zu haben. Angst in solchen Situationen ist etwas sehr Gesundes.«
»Na, toll«, fuhr sie ihn aufsässig an. »Danke, dann bin ich ja beruhigt.«
»Afrika hilft dir, dich selbst kennenzulernen, zu dem Kern deines Wesens zu gelangen«, fuhr er leise fort. »Hier trachtet dir ständig jemand nach dem Leben. Im Busch gibt es wilde Tiere, hochgiftige Schlangen, im Meer jagen Haie, in den Flüssen Krokodile, und in der Stadt lebt der Mensch, das erbarmungsloseste Raubtier auf dem Planeten … Es tötet dich nicht, weil es Hunger hat, sondern manchmal nur so.« Er schien mehr zu sich selbst zu sprechen, und Silke hörte ihm mit offenem Mund zu.
Erst nach einer langen Pause redete er weiter. »Diese ständige Gefahr macht dir bewusst, dass du am Leben bist. Sie lehrt dich, wozu du fähig bist …«
Ein durchdringender Vogelruf unterbrach ihn, und beide sahen automatisch hoch. Ein Kranich segelte aus dem Blau des Himmels und setzte tief unter ihnen am Fluss zur Landung an.
»Deine Seele bekommt Flügel«, flüsterte Marcus und schaute hinauf in dieses endlose Blau.
Silke konnte nicht glauben, was sie hörte. »Sag mal, bist du auf Drogen? Wovon redest du? Dass ich am Leben bin, weiß ich auch so, und das ist der Punkt, verstehst du? Ich möchte es auch bleiben.« Ein heftiger Schmerz begann in ihrem Hinterkopf zu pochen.
Sie musterte ihn misstrauisch. Lyrisch war er ihr noch nie ge kommen, und ihr fiel es schwer, seine jetzige Stimmung mit ihrem sonst so pragmatischen, analytisch denkenden Marcus in Verbindung zu bringen. Immer mehr war sie sich sicher, dass ihn irgendetwas in den Grundfesten erschüttert hatte, buchstäblich. Das bereitete ihr Sorgen, und die verdichteten sich immer mehr zu einem schwarzen Hintergrundrauschen, das sie nicht mehr loswurde.
Und da war sie wieder, diese Kälte, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte und ihr im Magen brannte. Sekundenlang wurde ihr schwindelig, als stünde sie auf schwankendem Boden, dann aber riss sie sich zusammen und stemmte die Arme in die Hüften.
»Ich habe einen sehr ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb, und deswegen möchte ich hier weg«, sagte sie energisch.
Er blinzelte zu ihr hinüber, als würde er geblendet. »Drogen? In einer Weise stimmt das. Afrika ist eine Droge. Es macht süchtig …« Wieder verrannen seine Worte.
Sie starrte ihn an, sah in einem grellen Flashback statt seinem Tonys Gesicht vor sich, die drogenverschleierten Augen, seinen ziellos irrenden Blick, den Speichelfaden, der ihm aus dem Mund winkel rann. Unwillkürlich suchte sie in Marcus’ Zügen nach verräterischen Anzeichen einer Drogensucht. Was hatte auf der Medikamentenpackung gestanden, die sie gefunden hatte? Sie durchsuchte ihr Gedächtnis, konnte sich aber nicht mehr an den Namen erinnern, nur dass es gegen Depressionen und Angststörungen war. Quälte ihn etwas so sehr, dass er diese Pillen nehmen musste, um seelisch zu überleben? Hatten die ihn so verändert?
Von plötzlichem Mitgefühl überwältigt, griff sie nach seiner Hand. »Wir könnten doch ein paar Tage am Indischen Ozean verbringen. Beide unseren Kopf
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