Nachtsafari (German Edition)
angefallen und so schwer verletzt worden, dass er kurz darauf starb. Was sagst du jetzt?« Herausfordernd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Aber Marcus schwieg und sah dabei nicht sonderlich besorgt aus.
Irritiert betrachtete sie ihn. Ließ ihn das kalt? Der grausige Tod eines Menschen, der von einer Raubkatze gerissen worden war? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Unvermittelt sah sie ihn auf dem Weihnachtsfest, das sie bei ihrer Cousine verbracht hatten, vor sich. Marcus, wie er liebevoll mit Kathrins Kindern spielte, und als plötzlich ein Spatz gegen das Wohnzimmerfenster prallte, hatte er ihn aufgehoben, aus seinem Schal ein Nest gebaut und in der Küche zusammen mit den Kindern gewartet, bis der Vogel sich so weit erholt hatte, dass er ihn freilassen konnte. Das Bild deckte sich überhaupt nicht mit dem, das er jetzt abgab. Vielleicht glaubte er der Aussage der Leute nicht.
»Die Sache ist hier durch alle Zeitungen gegangen, und du kannst es im Internet nachlesen, wenn du denen nicht glaubst«, fuhr sie fort. »Und die Sache mit den Hyänen stimmt auch. Denen nebenan ist schon Fleisch von diesen Bestien geklaut worden, und sie sagten, dass sie großes Glück gehabt hätten, dass die Hyänen nicht sie angegriffen haben, sondern ihre Lammkeule.« Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Südafrikaner scheinen alle ein bisschen verrückt zu sein. Die haben sich darüber kaputtgelacht, fanden das einfach nur herrlich abenteuerlich. An deren Stelle wäre ich nie wieder in ein Wildreservat gefahren. An deren Stelle wäre ich wohl ausgewandert.«
Wieder kam kein Kommentar von Marcus. Doch sie kannte ihn gut genug, um zu erkennen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Wie ihr schon öfter aufgefallen war, schienen ihm manchmal einfach die Worte zu fehlen, um das auszudrücken, was er dachte und fühlte. Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn an. »He, ich kann keine Gedanken lesen.«
Die Sonne stand zwar schon tief, aber die Hitze hatte nicht nachgelassen, deshalb zog sie sich in den Schatten des Dachvorsprungs zurück. »Du musst mit mir reden, sonst weiß ich nicht, woran ich bin«, sagte sie leise und meinte schon lange nicht mehr nur die Frage, wo sie ihre Steaks braten sollten.
Aber Marcus schwieg weiterhin, schien mehr an einem leise raschelnden Ameisenstrom interessiert zu sein, der unter dem Fensterrahmen hindurch ins Wohnzimmer führte. Trotzdem war sie sich sicher, dass er mit einem inneren Konflikt kämpfte. Mit steigender Spannung starrte sie ihn an.
Ein sachter Windstoß wirbelte Staub auf und wehte ihr eine getrocknete Samenkugel vor die Füße. Sie kullerte auf den Steinplatten mit dem Geräusch wie von einer Babyrassel hin und her. Es kratzte ihr an den gereizten Nerven, und plötzlich wurde der innere Druck zu viel. Sie kickte die Samenkugel ins Gras.
»Ich will hier weg«, platzte sie heraus. »Ich mutiere hier zum Angsthasen. Ich erkenne mich nicht wieder, und das gefällt mir überhaupt nicht. Das bin nicht ich, verstehst du? Aber randalierende Elefanten, blutrünstige Raubkatzen und hungrige Hyänen sind mir einfach zu viel, ganz zu schweigen von den giftigsten Schlangen, die auf diesem Planeten leben, und Krokodilen, die eine Unterwasserspeisekammer haben …« Die Sätze sprudelten so schnell aus ihr heraus, dass sie sich verhaspelte und erst tief durchatmen musste, ehe sie ruhiger fortfahren konnte. »Denk an diesen armen Scotty. Ein erfahrener Ranger, der, wie ich gehört habe, im Busch aufgewachsen ist und sich angeblich auskennt wie kein Zweiter, und trotzdem hat es ihn erwischt. Sich vorzustellen, was er tun musste, um sein Leben zu retten, das ist doch unmenschlich.«
Was sie nicht sagte, war, dass ihr die Summe der Merkwürdigkeiten in seinem Verhalten seit ihrer Abreise einfach keine Ruhe ließ. Dass sich die Summe all dieser Vorkommnisse als spitzer Stachel in ihr Fleisch gebohrt hatte und dass das der eigentliche Grund dafür war, dass sie so schnell wie möglich das Camp und den Umfolozi verlassen wollte. Und Südafrika.
»Auf derartige Buscherfahrungen möchte ich verzichten«, schob sie nach.
Marcus war noch immer mit den Ameisen beschäftigt. Mit dem Fuß häufte er Sand über einen Teil der Insekten. Binnen Sekunden hatte sich der kribbelnde Strom geteilt, umfloss das Hindernis, vereinigte sich wieder auf der anderen Seite und setzte unbeirrt seinen Weg fort.
»Faszinierend, was?«, murmelte er und ließ seinen Blick über den Abhang hinaus in die Ferne
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