Nachtsafari (German Edition)
funkelnde Objekt, das vom Lenkrad pendelte. Es war Marcus’ Armbanduhr, und die Erkenntnis katapultierte sie ins Jetzt. Alle fehlenden Puzzlestücke fielen an ihren Platz. Panik packte sie. Wo war Marcus? Sie horchte ins Dunkel. Aber außer dem eintönigen Ruf eines Vogels, dem Ächzen des zusammengedrückten Metalls und dem Schnattern der Affen war nichts zu vernehmen. Keine menschliche Stimme.
»Marcus«, flüsterte sie. »Kannst du mich hören?«
In höchster Spannung hielt sie den Atem an. Der Vogel war verstummt, für Sekunden hörte sogar das Pfeifen in ihren Ohren auf. Es herrschte Totenstille. Erdrückende, tonnenschwere Stille, dass sie glaubte, daran ersticken zu müssen. Sie rang nach Atem, wagte nicht, sich zu bewegen, damit ihr auch nicht der geringste Laut entging.
»Marcus«, stammelte sie und lauschte wieder. Eine Ewigkeit – bis ein einziger Laut sie erlöste. Ein Wort, voller Inbrunst ge sprochen.
»Scheiße!«
Es war unverkennbar Marcus’ Stimme, dumpf, schwach, aber voller Leidenschaft.
»Hier bin ich!«, schrie sie. »Marcus! Wo bist du?«
Eine lange Pause entstand. »Silke?«, röchelte er. »Liebling, bist du verletzt? Ich bin hier, aber ich kann dich nicht sehen.«
»Nein … nein … glaub ich jedenfalls nicht.« Sie schluchzte vor Erleichterung und bewegte probeweise Arme und Beine. »Es tut verdammt weh, als hätte mich jemand verprügelt, aber alles scheint zu funktionieren. Soweit ich das beurteilen kann, ist das Auto umgeworfen worden, und ich liege auf dem Dach, und die Sitze sind über mir.«
Marcus tat ein paar gequälte Atemzüge. »Ich hänge im Fahrersitz fest. Kannst du meinen Gurt lösen?«, fragte er gequetscht. Offenbar bekam er nur schwer Luft. »Ich kann’s nicht.«
»Warte, ich versuch’s.« Silke tastete sich zu dem Zwischenraum zwischen Dach und Rückenlehne und spähte hindurch, aber eine schwarze Wolke schob sich vor den Mond, und die Welt um sie herum verlosch. Blindlings tastete sie weiter, bis ihre Finger etwas Weiches, Warmes berührten, und sie merkte schnell, dass es sein Hinterkopf war. Mit wenigen Griffen verschaffte sie sich einen ungefähren Eindruck von seiner Situation.
Marcus hing offenbar in seinem Gurt vom Sitz herunter, seine Schultern berührten das Dach, sein Kopf war am Hals abgeknickt und wurde auf die Schultern gepresst, das Lenkrad klemmte ihn zusätzlich ein.
Glücklicherweise verdünnte sich jetzt die Wolke vor dem Mond zu einem Schleier, blasses Licht erhellte das Innere des Geländewagens. Sie wartete, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Zu ihrem Entsetzen begriff sie, dass wohl nur der Gurt ihn davor gerettet hatte, sich das Genick zu brechen.
Hastig drückte sie sich auf die Knie, übersah dabei jedoch die Mittelkonsole. Sie stieß ihren Kopf so hart an, dass sie sich auf die Zunge biss. Der Eisengeschmack von Blut füllte ihren Mund. Sie spuckte es aus. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und gewartet, bis sie ihre Sinne wieder beisammenhatte, aber Marcus’ angestrengtes Röcheln trieb sie zur Eile an. Vorsichtig schob sie ihre Hand durch den Zwischenraum und streckte sich, bis sie das Gurtschloss fühlen konnte.
»Halt dich am Gurt fest, sonst fällst du runter und brichst dir dann doch noch den Hals«, sagte sie und führte seine Hände, bis er den Bauch- und Schultergurt sicher gepackt hatte.
»Achtung, festhalten«, rief sie und drückte auf den Knopf.
Der Gurt schnappte auf, Marcus stöhnte vor Anstrengung, aber es gelang ihm, sich seitlich so vorsichtig aufs Dach gleiten zu lassen, dass er sich nicht weiter verletzte. Schwer atmend blieb er auf dem Rücken liegen, saugte mit offenem Mund Luft tief in seine gequetschten Lungen ein. Silke hörte mit Sorge das Rasseln in seiner malträtierten Kehle, aber nach und nach wurden seine Atemzüge ruhiger.
»Okay, geht wieder«, sagte er endlich und kroch auf die Beifahrerseite. Mühsam faltete er seine Knie unter sich, bis er geduckt auf Händen und Knien saß und sich, den Kopf oben ins Sitzpolster gepresst, umsehen konnte. Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, und es herrschte undurchdringliche Dunkelheit.
»Warte, bis ich erkundet habe, wie es hier drinnen aussieht. Ich taste mich jetzt langsam vorwärts. Vielleicht kriege ich das Handschuhfach auf. Da ist eine Taschenlampe drin.«
Offenbar war ihm das gelungen, denn mit lautem Klappern öffnete sich das Fach, und der Inhalt ergoss sich aufs Dach.
»Bingo«, murmelte er, und gleich darauf
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