Nachtsafari (German Edition)
Wahrnehmung getäuscht und sie Dinge sehen lassen, wo keine waren. Sie versuchte abzuschätzen, wie weit es von hier bis zu der Stelle war, wo sie gestanden und dem Kampf der beiden Männer zugesehen hatte. Zehn, fünfzehn Meter vielleicht, mehr bestimmt nicht, entschied sie, und aus so kurzer Distanz konnte sie sich nicht irren. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte. Zwei Männer, die miteinander kämpften.
Ein trockener Knall ließ sie zusammenfahren.
»Unsere Männer haben gar keine andere Wahl.« Ricks Stimme.
»Die erschießen die Wilderer?« Ihre Frage.
Sie blieb stocksteif stehen und horchte in die Nacht. Atmete nicht. Hörte ihr Herz hämmern. Ihren Tinnitus kreischen. Aber einen weiteren Knall hörte sie nicht. Auch kein Trommeln. Ihr wurde im Nachhinein ganz schlecht vor Aufregung. Der Mond brach hinter den Wolken hervor, und sein Licht strömte durch Büsche und Bäume, warf tiefe Schatten mit klaren Konturen. Das Licht war kalt, aber hell. So hell wie die Sonne in Deutschland im Winter, zuckte es ihr durch den Kopf.
Was hatte sie getan, bevor sie diesen Knall gehört hatte? Sie presste angestrengt die Lider zusammen, fasste sich an die Stirn. Es dauerte, ehe sich der Wirrwarr in ihrem Kopf klärte.
»Marcus«, wisperte sie.
Der Ranger. Sie hatten miteinander gekämpft. Sie hatte Marcus brüllen hören. Der Ranger war keine Illusion, sondern beinharte Realität gewesen. Langsam ging sie im Kreis.
Plötzlich blieb sie stehen. Zwischen Geröll und nassen Blättern hatte sich etwas verfangen. Sie bückte sich. Ein Blatt Papier, wie es ihr schien. Mit spitzen Fingern zog sie es heraus und glättete es behutsam. Es war augenscheinlich ein Foto, aber derart verdreckt, dass sie praktisch nichts darauf erkennen konnte. Irgendein Tourist wird seine Familie abgelichtet haben, dachte sie, ließ es wieder in den Schmutz fallen und ging weiter. Doch im selben Augenblick erinnerte sie sich, wie der Ranger Marcus ein Stück Papier hingehalten und wie der es dem Mann heftig aus der Hand geschlagen hatte.
Schnell bückte sie sich und hob das Foto auf. Wie ein nasser Lappen hing es in ihrer Hand, und das Mondlicht reichte nicht aus, um Genaueres zu sehen. Trotzdem würde sie es mitnehmen, obwohl es in Fetzen zu zerfallen drohte. Schließlich drapierte sie es sich über den Arm, sodass es weder knicken noch reißen konnte. Zufrieden, eine so clevere Lösung gefunden zu haben, überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte, hatte aber Schwierigkeiten, ihre Gedanken folgerichtig zu ordnen, merkte auch, dass ihre Bewegungen so schwerfällig geworden waren, als befände sie sich unter Wasser. Sie schob ihren Zustand auf eine Art verzögerten Schock und hätte ein Königreich für eine starke Tasse Kaffee gegeben.
»Hilfe holen«, sagte sie laut. »Jemanden anrufen. Beweg dich, dir rennt die Zeit weg.«
Hastig zog sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche, hielt aber inne. Wen sollte sie anrufen? Absurderweise dachte sie als Erstes an Olaf und Nicole Haslinger, aber das war natürlich Unsinn. Die Polizei wäre das Naheliegende. Sie grub in ihrem Gedächtnis nach, ob sie sich an die Notrufnummer erinnern konnte. Sie hatte auf dem Zettel gestanden, den Karen von der Autovermietung Marcus gegeben hatte, zusammen mit allen anderen Telefonnum mern, die man in einem Notfall anrufen konnte. Dieser Zettel befand sich vermutlich in Marcus’ Brieftasche, und die steckte vermutlich in der Gesäßtasche seiner Shorts, und er war …
Ihre Beherrschung brach in sich zusammen. Das Bild – ihr letztes Bild von ihm –, das sich unauslöschlich in ihre Netzhaut geätzt hatte, stand ihr vor Augen. Sie sah ihn auf sich zulaufen, seinen schreckensstarren Blick, hörte ihn schreien, sie solle wegrennen. Sah die bodenlose Angst in seinem Gesicht. Wurde von ihrer eigenen überrollt, ihn nie wiederzusehen, nie wieder seine Hände zu spüren, seine Stimme zu hören. Sie vergrub ihren Kopf in den Händen. Schwarze Verzweiflung drohte sie zu lähmen.
Ohne zu überlegen, schlug sie sich ins Gesicht. Hart. Es klatschte, es tat weh, aber der Schmerz sprengte den Angstpanzer weg, verlieh ihr die Kraft, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. Sie musste Hilfe holen. Für Marcus und für sich. Angst lähmt, und das konnte sie sich nicht leisten.
Wen sonst konnte sie anrufen? Sie nagte an ihrer Unterlippe. Rob Adams? Seine Nummer war mit Sicherheit in Marcus’ Handy gespeichert, und das war … Sie biss so hart auf ihre Lippe, bis sie Blut
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