Nachtsafari (German Edition)
festhalten.
Dann trat Marcus offenbar in ein Erdloch und rutschte aus, der Gürtel wurde ihr aus der Hand gerissen, sie verlor das Gleichgewicht und landete mit Wucht auf Händen und Knien. Sie biss einen Schmerzensschrei zurück und zog sich am Stamm eines Baumes wieder hoch. Mit einer Hand klammerte sie sich am Baum fest, mit der anderen hielt sie ihr Haar, aus dem ihr das Wasser in die Augen rann, aus dem Gesicht.
Das Gewitter tobte direkt über ihnen. Blitze entluden sich mit ohrenbetäubendem Krachen, zerhackten ihr Blickfeld in Lichtsplitter, der Donner erschütterte jede Faser ihres Körpers. Marcus konnte sie nicht sehen.
»Marcus!«, schrie sie. »Wo bist du?« Nach mehreren schreckerfüllten Sekunden erkannte sie seine Umrisse und hörte seine Stimme.
»Bleib stehen, wo du bist. Ich komme zu dir«, brüllte er.
Laut schluchzend klammerte sie sich an dem Baumstamm fest, der im tobenden Sturm schwankte, als wäre er nichts als ein Bambushalm. Krampfhaft versuchte sie, Marcus in der silbergrauen Regenwelt nicht aus den Augen zu verlieren. Fast hatte er sie erreicht, als er plötzlich wieder hinter dem Wasservorhang verschwunden war. Angestrengt starrte sie dorthin, wo er eben noch gestanden hatte.
Nichts.
Kein Schatten, keine Bewegung, kein Laut.
»Marcus?«, schrie sie über das Tosen des Unwetters hinweg. Sie lauschte konzentriert.
Keine Antwort.
Sie sah ihn vor sich, als sie gefragt hatte, ob er schon einmal in diesem Land gewesen sei, und jetzt fiel ihr auf, was sie in der Aufregung nicht wirklich wahrgenommen hatte. Seine Körpersprache in jenem Moment war für sie im Nachhinein klar und deutlich: Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit, das hatte er signalisiert.
Angst wovor? Vor der Rückkehr der Elefanten? Vor dem Ge witter?
Ihre Nerven sirrten, und dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins lauerte eine heiße Furcht vor etwas Schrecklichem, als hätte ihr Instinkt ein Geräusch, einen Geruch wahrgenommen, der ihren wachen Sinnen noch entging. Ein verästelter Blitz zischte herunter, und in dem plötzlich taghellen Licht entdeckte sie ihn. Er stand halb abgewandt von ihr, sodass sie ihn nur im Profil sehen konnte.
»Marcus!«, rief sie ihn und kämpfte sich durch den aufgeweichten Boden in seine Richtung. »Hier bin ich.«
Aber er reagierte überhaupt nicht. Reglos stand er da, hatte den Kopf halb gesenkt und stierte auf einen Punkt einige Meter von ihm entfernt. Inzwischen fuhren unaufhörlich Blitze herunter, zwei, drei auf einmal, verästelt wie ein grell leuchtendes Wurzelgeflecht, über den ganzen Himmel verteilt. Eine schreckliche Beklemmung packte sie, während sie Marcus’ Blick folgte.
Im zuckenden Licht nahm sie schemenhaft die Umrisse eines Menschen wahr – den Proportionen nach die eines Mannes. Eines großen Mannes, der breitbeinig dastand und ein Gewehr in der Hand trug. Sie erkannte ihn sofort. In allen Einzelheiten. Auch den winzigen, rosa Oktopus auf seiner Oberlippe. Vor Schreck blieb ihr der Mund offen stehen.
Es war der Ranger von der Wilderer-Patrouille, jener, der Marcus angestarrt hatte wie eine Raubkatze ihre Beute. Der, vor dem Marcus kopflos davongefahren war.
»Marcus!«, schrie sie, und Panik schnürte ihr fast die Kehle zu.
Marcus drehte sich zu ihr um, im grellen Blitz wirkte sein Gesicht wie eine Totenmaske. »Lauf weg«, brüllte er. »So schnell du kannst.« Er sprintete durch den Regenvorhang auf sie zu, blankes Entsetzen verzerrte sein Gesicht.
Aber er schaffte es nicht. Mit einer geschmeidigen Bewegung erreichte ihn der Ranger und warf ihn wie einen Sack zu Boden. Vor Schock konnte Silke sich nicht rühren. Die beiden Männer verknäulten sich ineinander, Marcus schlug um sich wie ein Berserker. Brüllte wie ein Stier. Das Nächste, was sie sah, war, wie der Mann auf Marcus’ Brust kniete und ihm ein Stück Papier hinhielt. Soweit Silke erkennen konnte, war es etwa so groß wie eine Heftseite.
Marcus schlug das Papier zur Seite und ging mit den Fäusten auf den Mann los. Er landete einen Treffer in dessen Gesicht, der Ranger antwortete mit einem bösartigen Knurren und hob das Gewehr, Kolben zuerst.
Der nächste Blitz zischte in unmittelbarer Nähe herunter, blendete Silke, dass sie für Sekunden vollkommen blind war. Als sich ihr Blick endlich wieder klärte, waren Marcus und der Ranger verschwunden.
Ungläubig starrte sie auf den Fleck, wo sie die beiden zuletzt gesehen hatte. Aber da war nichts als Gestrüpp, schwarze Schatten und im
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