Nachtschicht
würde.
»Könnten Sie nicht, als Geste der Höflichkeit …« fing ich vorsichtig an.
»Gott verfluche deine Höflichkeit!«
»Nun gut«, antwortete ich mit soviel Artigkeit, wie ich aufbringen konnte. »Dann möchte ich mich verabschieden, bis Sie sich wieder etwas mehr in der Gewalt haben.« Mit diesen Worten wandte ich mich ab und machte mich auf den Weg, der zum Dorf führte.
»Komm ja nicht zurück!« kreischte er hinter mir her. »Bleib oben bei deinem Bösen! Verflucht! Verflucht! Verflucht!« Er warf mir einen Stein nach, der mich an der Schulter traf, weil ich ihm nicht die Genugtuung geben wollte, zur Seite zu springen.
Anschließend suchte ich Mrs. Cloris auf, fest entschlossen, wenigstens das Geheimnis um Thompsons feindselige Haltung zu lösen. Sie ist Witwe (Deine verflixten Kuppeleiversuche kannst Du Dir in diesem Fall sparen; die Dame ist leicht fünfzehn Jahre älter als ich, und ich habe die Vierzig bereits hinter mir) und lebt allein in einem reizenden kleinen Haus direkt an der Schwelle des Ozeans. Sie war gerade dabei, ihre Wäsche aufzuhängen, als ich eintraf, und schien sich wirklich zu freuen, mich zu sehen, was ich mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, denn es ist unglaublich quälend, ohne verständlichen Grund als Paria behandelt zu werden.
»Mr. Boone«, begann sie nicht unfreundlich, »wenn Sie gekommen sind, um mich zu fragen, ob ich für Sie waschen kann, muß ich Ihnen sagen, daß ich nach September nichts annehme. Mein Rheumatismus plagt mich so schlimm, daß ich schon Mühe genug habe, meine eigene zu erledigen.«
»Ich wünschte, Wäsche wäre der Grund meines Besuchs. Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche, Mrs. Cloris. Ich muß alles wissen, was Sie mir über Chapelwaite und Jerusalem’s Lot sagen können, und warum mir die Menschen hier mit solcher Angst und solchem Mißtrauen begegnen!«
»Jerusalem’s Lot! Sie wissen also davon.«
»Ja, und ich habe dem Ort zusammen mit meinem Begleiter vor einer Woche einen Besuch abgestattet.«
»Gütiger Gott!« Sie wurde kreidebleich und begann zu schwanken, und ich streckte die Hand aus, um sie zu stützen.
Ihre Augen rollten wild, und einen Augenblick lang war ich überzeugt, sie würde in Ohnmacht fallen.
»Es tut mir leid, Mrs. Cloris, wenn ich irgend etwas gesagt haben sollte …«
»Kommen Sie mit ins Haus«, unterbrach sie mich. »Sie müssen es erfahren. Herr im Himmel, die Tage des Bösen sind wieder angebrochen!«
Danach sagte sie nichts mehr, bis sie in ihrer sonnigen Küche einen starken Tee aufgebrüht hatte. Als er vor uns stand, blickte sie eine Weile nachdenklich auf den Ozean hinaus.
Unwillkürlich wurde ihr Blick und der meine von der ins Meer vorragenden Landzunge von Chapelwaite Head angezogen, auf dem das Haus über dem Wasser aufragte. Das große Erkerfenster glitzerte in den Strahlen der im Westen stehenden Sonne wie ein Diamant. Der Anblick war herrlich, aber seltsam beunruhigend. Plötzlich drehte sie sich zu mir herum und verkündete heftig:
»Mr. Boone, Sie müssen Chapelwaite sofort verlassen!«
Ich war sprachlos vor Erstaunen.
»Es liegt ein böser Hauch in der Luft, seit Sie in Chapelwaite eingezogen sind. In der letzten Woche - seit Sie den verfluchten Ort betreten haben - hat es Omen und böse Vorzeichen gegeben. Eine Glückshaube über dem Gesicht des Mondes, Ziegenmelker, die auf den Friedhöfen schlafen, ein mißgeborenes Kind. Sie müssen abreisen!«
Als ich endlich die Sprache wiedergefunden hatte, erwiderte ich so behutsam wie möglich: »Solche Dinge sind doch nur Phantasie, Mrs. Cloris. Das müssen Sie doch wissen.«
»Ist es etwa Phantasie, daß Barbara Brown ein Kind ohne Augen zur Welt gebracht hat? Oder daß Clifton Brocke« im Wald hinter Chapelwaite, wo alles verdorrt und welk geworden ist, eine flache, eingedrückte Spur von fünf Fuß Breite entdeckt hat? Und können Sie, der Sie Jerusalem’s Lot besucht haben, mit Sicherheit sagen, daß dort nichts mehr lebt?«
Ich war nicht fähig, ihr zu antworten; vor meinen Augen tauchte wieder die Szene in jener gräßlichen Kirche auf.
Sie verschränkte fest ihre knorrigen Finger, bemüht, sich zu beruhigen. »Ich weiß von diesen Dingen nur durch meine Mutter und deren Mutter. Kennen Sie die Geschichte Ihrer Familie, soweit sie sich auf Chapelwaite bezieht?«
»Vage. Das Haus ist seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Zuhause von Philip Boones Linie; sein Bruder Robert, mein Großvater, ließ sich
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