Nachtschicht
Bemerkung an; dann sah ich, wie sein Blick auf einen Punkt hinter mir herumfuhr, und seine Worte verwandelten sich in einem Schrei.
Wie kann ich den Anblick beschreiben, Bones, der sich unseren Augen bot? Wie kann ich Dir die gräßlichen Bewohner schildern, die unsere Mauern beherbergen? -
Die andere Wand schwang zurück, und aus der Dunkelheit dahinter tauchte ein Gesicht auf - ein Gesicht mit Augen, die so schwarz waren wie der Styx. Der Mund war zu einem zahnlosen, qualvollen Grinsen aufgerissen, und eine gelbe, verweste Hand streckte sich uns entgegen. Es stieß einen gräßlichen, quäkenden Laut aus und machte einen schlurfenden Schritt in unsere Richtung. Das Licht meiner Kerze fiel auf - Und jetzt sah ich den bläulichen Abdruck eines Stricks um seinen Hals!
Dahinter rührte sich plötzlich noch etwas, eine Kreatur, von der ich bis zu jenem Tag träumen werde, an dem alle Träume aufhören: ein Mädchen mit einem bleichen, vermoderten Gesicht, das zu einem Totengrinsen verzogen war und dessen Kopf in einem wahnwitzigen Winkel auf ihren Schultern saß.
Sie wollten uns; ich weiß es. Und ich weiß, daß sie uns in die Dunkelheit gezerrt und zu den ihren gemacht hätten, wenn ich nicht meine Kerze genau auf das Wesen in der Öffnung geschleudert hätte, und den Stuhl unter der Schlinge hinterher.
Was dann folgte, ist ein dunkles Wirrwarr. Mein Geist hat sich davor verschlossen. Ich erwachte, wie ich schon sagte, in meinem Zimmer, mit Cal an meiner Seite.
Wenn ich könnte, würde ich im Nachthemd, mit fliegenden Schößen, aus diesem Haus des Schreckens fliehen. Aber ich kann nicht. Ich bin eine Figur in einem tieferen, noch finsteren Drama geworden. Frage mich nicht, woher ich es weiß; ich weiß es einfach. Mrs. Cloris hatte recht, als sie davon sprach, daß Blut Blut ruft; und wie furchtbar recht hatte sie auch, als sie von jenen sprach, die wachen und jenen, die hüten. Ich fürchte, daß ich eine Macht geweckt habe, die ein halbes Jahrhundert in dem finsteren Dorf Salem’s Lot geschlafen hat, eine Macht, die meine Vorfahren getötet und sie wie Nosferátu, der Untote, zu ihren unseligen Sklaven gemacht hat. Aber ich hege noch viel schlimmere Befürchtungen, Bones, doch noch kenne ich erst einen Teil. Wenn ich nur wüßte … wenn ich nur alles wüßte.
CHARLES.
Postskriptum - Ich schreibe dies nur für mich auf, denn wir sind von Preacher’s Corners isoliert. Ich wage mit meinem Mal nicht, dorthin zu gehen, und Calvin will mich nicht alleinlassen. Vielleicht, wenn Gott gnädig ist, erreicht Dich dieser Brief irgendwie.
C.
(Aus dem Tagebuch von Calvin McCann)
23. Oktober‘50
Er ist heute kräftiger; wir haben kurz über die Erscheinungen im Keller gesprochen und sind beide einer Meinung, daß sie weder Halluzinationen noch übersinnliche Erscheinungen, sondern real gewesen sind. Ob Mr. Boone, wie ich, glaubt, daß sie verschwunden sind? Vielleicht; die Geräusche sind jedenfalls verstummt. Doch noch ist alles finster und bedrohlich, in einen dunklen Mantel gehüllt. Es scheint, als warteten wir in der trügerischen Ruhe vor dem Sturm …
Habe in einem der oberen Schlafzimmer einen Stapel Papiere gefunden, die in der untersten Schublade eines alten Rollpults lagen. Einige Briefe und quittierte Rechnungen bringen mich zu dem Schluß, daß dies das Zimmer von Robert Boone gewesen sein muß. Der interessanteste Fund aber sind ein paar Notizen auf der Rückseite einer Anzeige für Biberpelzmützen für Herren. Zuoberst steht:
Selig die Demütigen.
Darunter steht folgendes, das augenscheinlich keinen Sinn ergibt:
s k l d g h i e d m m h t s g a n
e e m i o d r e r e s ü a i d e d
Ich glaube, daß dies der Schlüssel für das verschlossene und chiffrierte Buch in der Bibliothek ist. Der Code ist tatsächlich einfach und wurde im Unabhängigkeitskrieg benutzt. Wenn man die »Nullen« aus der zweiten Notiz streicht, erhält man dies hier:
s I g i d m t g n
e i d e e ü i e
Liest man die beiden Zeilen nach unten und oben statt waagerecht, kommt man auf das ursprüngliche Zitat aus den Seligpreisungen.
Bevor ich dies Mr. Boone zeigen kann, muß ich erst wissen, was in dem Buch steht …
24. Oktober 1850
Lieber Bones,
etwas Überraschendes ist passiert: Cal, der ja immer so lange schweigt, bis er seiner absolut sicher ist (ein seltener und bewundernswerter Charakterzug!), hat das Tagebuch meines Großvaters Robert gefunden. Die Aufzeichnungen waren in einem Code geschrieben, den Cal
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