Nachtseelen
um die Schultern.
»D-danke«, stammelte sie. Er nickte. Mehr nicht. Er hatte sie nicht einmal angesehen. Dabei wollte sie ihm so viel sagen, was so lange ungesagt geblieben war. Zum Beispiel, dass es ihr gleichgültig war, mit wie vielen Frauen er bereits geschlafen hatte, dass sie ihn trotzdem ⦠Aber hatte das noch eine Bedeutung? In der Dunkelheit versuchte sie, sein Gesicht zu erahnen. Er bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.
Ich bin nur ein Mensch, dachte sie wehmütig. Es ist aus für mich. Keine zweite Chance.
Sie lief hinter Adrián her, mit den nackten FüÃen auf dem kalten Boden, und achtete darauf, nicht in Pfützen zu treten. Ãber ihren Köpfen sah sie einen Schatten, der auftauchte und dann wieder verschwand. Der Rotmilan folgte ihnen.
Alba wünschte, sie würden bald ihr Ziel erreichen, auch wenn es hieÃ, in das Reich eines Monsters zu treten. Doch auf ein Dracula-Schloss wartete sie vergeblich, und auch sonst zierten keine Gepfählten die Umgebung. Von der lärmenden HauptstraÃe, die auch zu dieser späten Uhrzeit vielbefahren war, tauchten sie in die Stille eines Gassengewirrs. Sie blieben vor einem Geschäft an der Ecke eines Hauses stehen, dessen Eingang ein Schild mit Efeuranken und schwungvollen Buchstaben zierte: Fairyâs Garden .
Ein Blumenladen? Das Bild eines gefürchteten Nachzehrers fügte sich in ihrem Kopf nicht in eine Rosenund
Orchideen-Idylle ein. Was hatte sie schon von einem Blumenhändler zu befürchten? Dass er sie mit Nelken totschlug?
Alba stieg auf die erste Stufe, doch Adrián hob warnend die Hand.
Aus der offenen Tür hallten Stimmen. Zumindest die einer Frau: hoch, feurig, mit einem Hauch von Unmut. »Seien Sie doch vernünftig! Der Messias der Nacht wird uns die Erlösung und Freiheit bringen! Warum stoÃen Sie diese Gaben von sich? Aus welchem Grund sollten wir dem Befreier nicht folgen?«
Die Antwort kam leise, kaum hörbar, brachte die Frau dennoch sofort zum Schweigen: »Das ist beileibe das Dämlichste, verzeihen Sie mir den Ausdruck, was ich in meinem Dasein als Untoter vernommen habe. Es scheint mir, als hätten Sie sich ein paar schlechte Filme zu Gemüte geführt: Der Messias der Nacht, der König der Untoten ⦠Jeder, der nur einen Funken Vernunft besitzt, würde verstehen, dass der sogenannte Messias nichts als schöne Märchen auftischt. Glauben Sie mir, seit dem 19. Jahrhundert habe ich die öfter gehört, in der einen oder anderen Ausführung.« Das Timbre kam einem Meeresrauschen gleich, das sanft auf einen einredete und dabei eine ungeahnte Kraft verbarg. Eine Kraft, die Alba lieber nicht entfesselt sehen wollte. Die o-Laute klangen bei ihm etwas tiefer als sonstige Vokale, und statt »ch« rutschte ihm des Ãfteren ein »kh« heraus.
Trotz Adriáns Warnung spähte sie in das Innere des Geschäftes. Im Dunkeln konnte sie kaum etwas erkennen,
abgesehen von üppigen Palmen und Birkenfeigen, als hätte ein exotischer Wald den Raum erobert. Hier und da funkelten winzige Lämpchen in bläulichen Tönen und vermittelten dem Laden etwas Zauberhaftes, Feenreichartiges. Nachdem ihre Augen sich etwas daran gewöhnt hatten, erahnte sie in der hinteren Ecke zwei Schatten: einen schlanken, der anscheinend einer groà gewachsenen Frau gehörte, und den des Nachzehrers, der bei weitem weniger imposant als in ihrer Vorstellung wirkte. Und dieser Mann sollte der Anführer des geheimnisvollen Untoten-Clans sein?
Wieder redete die Frau, weniger schrill als zuvor, doch nicht minder bissig: »Vielleicht ist das gerade der Punkt? Sie sind schon viel zu lange tot. Fängt man da nicht an, ein wenig seltsam zu werden? Sich selbst, die Welt zu vergessen und nur fürs Töten zu existieren?« Ihre Silhouette bewegte sich an der Wand entlang. »Bald werden Sie nicht mehr wissen, wie Sie heiÃen, nur dass Sie die Lebensenergie brauchen. Immer mehr davon. Bis nur noch das wichtig ist.« Ihre Schritte wurden hektischer. »Stellen Sie sich so Ihre Zukunft vor? Ich mir meine nicht!«
»Hätten Sie die Güte, etwas vorsichtiger zu sein? Sie stoÃen noch meine Orchideen um«, entgegnete der Mann unbeeindruckt.
»Orchideen? Ist das alles, was Ihnen wichtig ist?«
»Nein, um meine chinesische Baumpäonie mache ich mir weit mehr Sorgen.«
Die Frau schnaubte. »Sie veralbern mich,
Weitere Kostenlose Bücher