Nachtseelen
zu lassen. »Haben Sie kein Zuhause? Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.«
Warum nicht? Der Gedanke kam mit der gleichen Intensität wie ihre Worte zuvor und zwang Conrad, sich umzudrehen.
»Weil das hier kein Hotel oder Krankenhaus ist«, antwortete er auf seine seltsame Art, bei der man nicht wusste, ob er einen Groll hegte oder sich über einen lustig machte.
Wir bleiben hier. Alba richtete sich auf, selbst überrascht von ihrem Wagemut. Sie finden Finns Angebot interessant, also verbuchen Sie das einfach als Vorauszahlung für die Informationen.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen schoss Conrad durch den ganzen Raum auf sie zu, ergriff Alba an den Schultern und wirbelte sie herum. »Meinen Sie wirklich, Sie sind in der Lage, hier Forderungen zu stellen?«
Er fasst Leute nur an, um sie zu töten, schlichen sich Adriáns Worte in ihr Hirn. Und sie stand allein einem Feind gegenüber, gegen den sie nicht einmal dann bestehen würde, wenn sie einen schwarzen Gürtel in Karate hätte.
Ihr Herz trommelte, während sie in sein Gesicht blickte. Sein Gesicht, das so nah an dem ihren war. Seine Lippen, jeden Moment bereit, sich um ihren Mund zu schlieÃen und ihr sämtliche Energie zu rauben.
Alba stellte es sich bildhaft vor und musste kichern. Sie hatte zwar keinen Eimer Tzaziki gegessen, dafür aber die Zähne nicht geputzt, fiel ihr ein.
Conrad lachte auf, ohne Herzlichkeit, und schubste sie von sich, so dass sie fast über Finn gestolpert wäre. »Sie müssen wirklich verrückt sein. Aber was sollâs. Heute wurde schon so viel Porzellan zerbrochen, dass es darauf nicht mehr ankommt, ob ich in meinem Haus einem Biest und einem Menschenkind Asyl gewähre.« Er schob die Hand unter seine Schürze, kramte in der Hosentasche und holte einen Schlüsselbund hervor. »Ãber dem Laden befindet sich meine Wohnung.«
Conrad warf ihr die Schlüssel zu und beugte sich über Finn. Als er den bewusstlosen Metamorph auf die Arme hob, verzog er das Gesicht, als müsse er sich tatsächlich überwinden, ihn anzufassen. Finns Gewicht schien ihm
dagegen nichts auszumachen, als wöge der junge Mann rein gar nichts.
»Gehen wir.« Mit dem Kinn deutete er zur Tür.
Alba lieà es sich nicht zweimal sagen und eilte voran. In ihrer Hast wäre sie beinahe auf etwas getreten, was auf dem Bürgersteig lag. Sie erkannte es nicht sofort. Der Rotmilan! Das Tier schien keine Kraft zu haben, sich zu bewegen, auch wenn es im Gegensatz zu seinem Herrchen nicht ohnmächtig war.
Alba hob den Vogel auf. Mit Erleichterung spürte sie den regelmäÃigen Herzschlag unter den Federn. Die wachen Knopfaugen blickten sie an. Also ging es ihm so weit gut.
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Conrads Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einem winzigen Flur. Es roch nach altem Holz und verstaubten Polstern.
»Ich bin selten hier oben«, erwiderte der Nachzehrer in einem entschuldigenden Ton und trat in die Stube.
Alba folgte ihm.
Das Wohnzimmer hätte einem historischen Film als Kulisse dienen können. Noch besser einem Sherlock-Holmes-Streifen: die Nachahmung eines Kamins, der Ohrensessel, das englisch anmutende Mobiliar.
Conrad verfrachtete Finn auf die Couch. »Leider besitze ich kein Bett.«
Adrián hatte eins.
Wieder huschte ein undurchschaubares Lächeln über seine Lippen. »Möglich, aber Sie wollen ganz bestimmt
nicht in allen Einzelheiten wissen, was er darin meistens treibt.«
Vermutlich nicht.
Alba kauerte sich vor das Sofa. Mit zwei Fingern hob sie Finns blutgetränkten T-Shirt-Ãrmel an. Die Wunde sah tief aus, aber ohne medizinisches Wissen konnte sie nicht beurteilen, wie schlimm die Verletzung wirklich war.
Hier, im richtigen Licht, schmerzten sie Finns eingefallenes Gesicht und die Blässe seiner Haut sehr. Was, wenn er nicht mehr aufwachen würde? Wenn alles doch viel ernster war als gedacht?
»Ich habe bereits einen Arzt hierherbestellt«, sagte Conrad überraschend milde. »Wir kriegen Ihren Metamorph-Freund schon geflickt, keine Sorge.«
Sie wünschte, sie könnte ihm ohne Vorbehalt glauben.
Er setzte sich in den Sessel, streckte die Beine aus und kreuzte die FüÃe. Alba hockte immer noch auf ihren Fersen. Sie wollte Finns Hand halten, brachte es aber nicht über sich. Zu sehr fürchtete sie, erleben zu müssen, wie seine Haut abkühlte, wie das Leben aus ihm wich. Sie wagte nicht
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