Nachtseelen
Mitleid hätte er umgehen können. Aber nicht mit dem hier. So stand er da wie ein Holzklotz, ohne sich zu rühren, während ihre Hände über seine Wangen tasteten, als wäre sie blind und müsse sein Gesicht neu erkunden. Ihre Finger berührten die Narbe an seinem Ohr, wo der hässliche Knick war, fuhren an der Schramme an seinem Hals entlang. Ihm wurde schlecht, als er sich vorstellte, wie sie seine verunstaltete Haut anfasste â er vermochte es kaum, sich selbst anzufassen. Und es tat ihm weh, sie schluchzen zu hören. Vor allem, weil er der Grund dafür war, sich aber nicht erklären konnte, warum.
Er lehnte seinen Kopf an ihre Schläfe. Du brauchst nicht zu weinen. Vor allem nicht um mich.
Auf einmal wich sie von ihm zurück.
Was habe ich jetzt falsch gemacht? , wollte er ihr zurufen und schwieg, unfähig, auch nur einen menschlichen Ton von sich zu geben.
Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und wischte die Tränen weg. »Sieh mich an! Erkennst du mich nicht?«
Jetzt verstand er endgültig nichts mehr. Seine innere Stimme riet ihm, er solle jetzt bloà nichts Falsches sagen. Was auch immer das alles bedeuten mochte, es brachte ihm Alba näher. So nah wie nicht einmal damals auf dem Dachboden, geschweige denn in den letzten Tagen.
Es brachte ihm die Hoffnung zurück. Auch wenn er nicht genau wusste, was er sich all diese Zeit erhofft hatte.
Und dennoch sagte er das Dämlichste überhaupt: »Du stotterst ja nicht mehr.« Gleich biss er sich auf die Lippen, doch es war zu spät.
Sie wird mich hassen. Und völlig zu Recht.
Aus dem Wohnzimmer flatterte der Rotmilan herbei. Bei dem Geräusch der Flügelschläge zuckte Finn zusammen. Sich in einem engen Raum mit dem Vogel zu befinden überstieg die Grenzen des Erträglichen. Er ballte die Fäuste, um sich unter Kontrolle zu halten, und befahl sich, Alba anzusehen. Nur sie allein. Alles andere war nicht von Bedeutung.
Der Rotmilan fand keine Landegelegenheit und stob auf Finn zu. In dem engen Flur gab es keine Ausweichmöglichkeit.
Finn sah nichts als Flügel und Krallen. Mit einem erstickten Aufschrei drückte er sich gegen die Wand und zog den Kopf zwischen die Schultern. Dennoch streiften die Flügel seine Wange. Federn, die ihm scharf wie Rasiermesser vorkamen.
Der Rotmilan setzte sich im Badezimmer auf den Boden und schüttelte sich.
Die Angst schnürte Finn den Hals zu, und erst als er sich abwandte, den Vogel aus den Augen verlor und sich lange genug eingeredet hatte, der Rotmilan wäre gar nicht da, half es.
Vergiss das Vieh ⦠Es wird dir nichts tun.
Wieder sah er Alba an, und sein Herz, das so sehr gerast hatte, setzte für einen Moment aus.
Es war vorbei.
Er hatte sie verloren, die Bindung, die er zu ihr kurz zuvor gespürt hatte. Diesmal nicht durch eine Lüge, sondern durch etwas, was er nicht greifen, ja, nicht einmal benennen konnte. Und was dennoch so wichtig zu sein schien.
»Was hast du mich gerade gefragt?«, stammelte er. Sein Mund war trocken, die Zunge träge, und die Worte konnte er selbst kaum verstehen. »Dieses verdammte Vieh hat mich durcheinandergebracht.«
Albas Blick huschte zu dem Vogel und wieder zurück. »Vergiss es. Es ist alles in Ordnung.« Zart klang ihre Stimme, beruhigend und ⦠verständnisvoll.
Er lächelte verbittert. »Jetzt belügst du mich?«
Woher kannte sie seinen Spitznamen? Was hatte sie
bloà mit »Erkennst du mich nicht?« gemeint? Die Fragen kreisten in seinem Kopf, wie es manchmal sein Geier tat, und machten ihn genauso wahnsinnig.
»Du hast doch gesagt â¦Â«, klammerte er sich noch an die Hoffnung, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, doch sie legte ihm rasch die Finger auf die Lippen.
»Nein, nein. Vergiss es, ehrlich. Ich war einfach froh, dich wohlauf zu sehen, und habe dummes Zeug geredet. Sag mal, hat dein Vogel immer noch keinen Namen?«
Gern hätte er ihre Finger geküsst, traute sich aber nicht. Schon zog sie die Hand zurück, und alles, was ihm blieb, war die Erinnerung an ihre Berührung, die er noch auf seinen Lippen spürte.
Finn musste sich räuspern, um den Kloà in seinem Hals hinunterzuschlucken. »Mir fällt keiner ein.« â Warum sagst du mir nicht, was du sagen wolltest? Vertraust du mir immer noch nicht? Was kann ich noch tun, um dich zurückzugewinnen?
Sie
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