Nachtseelen
â von ihrer Begegnung mit dem Mörder.
Alba packte Georgs Hand und fuhr herum. Ein Samtvorhang trennte den Eingang ab und hatte sich genau in dem Augenblick bewegt, als sie sich umgedreht hatte. Jemand stand dahinter und hatte ihn schnell zugezogen! Sie sah deutlich die auf Hochglanz polierten Männerschuhe unter dem Saum hervorragen.
»Ist alles in Ordnung, Liebes?« Georg strich ihr über den Oberarm.
Sie schaute ihn an. Nein, nichts war in Ordnung. Der Mörder hatte sie gefunden! Als sie wieder zurückblickte, waren die Männerschuhe unter dem Vorhang verschwunden. Ihr wurde heiÃ, als hätte sich die Kapelle in einen Ofen verwandelt, und trotzdem schlotterten ihr die Glieder wie bei Schüttelfrost.
Alba machte keinen Versuch, irgendetwas zu erklären, sprang auf und eilte zum Ausgang. Diesmal war sie nicht allein â wenn der Mörder tatsächlich hierhergekommen war, würde er der Gerechtigkeit nicht entgehen.
»Alba!«, hallte Georgs Ruf ihr hinterher.
Sie schlug den Vorhang beiseite, rannte durch den kleinen Vorraum und riss die Tür auf. Die Sonne blendete sie. Alba stürmte aus der Kapelle und prallte mit aller Wucht gegen einen jungen Mann. Instinktiv fing
er sie auf, taumelte zurück, und sie stürzten zusammen von den Stufen zur Kapelle.
Sein Körper pufferte ihre Kollision mit dem Boden ab, und Alba kam mit dem Schrecken davon. Gleich darauf musste sie einsehen, dass der Mann unter ihr nicht der Kerl war, der sie in Hermanns Haus angegriffen hatte. Und wenn sie seine abgetretenen Sneakers betrachtete, konnte er auch nicht derjenige hinter dem Vorhang gewesen sein.
»Geht es Ihnen gut?«, keuchte er, während er sie noch immer schützend in den Armen hielt.
Sie nickte.
»Dann wäre ich Ihnen äuÃerst dankbar, wenn Sie so nett wären, von mir aufzustehen. Oder mir zumindest nicht Ihren Ellbogen in die Rippen zu drücken.«
Ein Vogel â ein Habicht oder ein Bussard? â flatterte vorbei, drehte einen Kreis über ihren Köpfen und setzte sich auf eine Tanne. Verrückt, aber es kam ihr vor, als würde sich das Tier amüsieren. Noch verrückter war die Tatsache, dass der junge Mann, auf dem sie lag, anscheinend dasselbe dachte wie sie. Er warf dem Vogel einen finsteren Blick zu und murrte: »Sehr lustig. Jetzt hast du deinen Spaà gehabt, was?«
Das Tier krähte ihm etwas entgegen und schüttelte sich. Höchst zufrieden, wie es Alba erschien. Sie verlagerte ihr Gewicht und wollte aufstehen, als der eisige Blick von vorhin sie erneut traf. Sie wagte kaum zu atmen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.
Dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Silhouette,
die sich im Schatten einer Eiche verbarg. Für eine Sekunde setzte ihr Herz aus. Es war der Mörder â seine GröÃe, seine Statur -, kein Zweifel! Schon glaubte sie zu sehen, wie die eiskalten, blauen Augen aufblitzten.
Der Greifvogel stieà ein hohes »Wiih!« aus. Warnend. Durchdringend. Der junge Mann packte sie am Arm. »Gehen Sie zurück in die Kapelle, zu den Leuten dort«, flüsterte er, und sie wäre auf der Stelle davongelaufen, ohne dass er ihr das hätte sagen müssen, wenn sie nicht so durcheinander gewesen wäre.
Ein Wimpernschlag â schon war der Killer verschwunden. Alba keuchte. Hatte sie geträumt? Oder wie konnte er sich so schnell bewegen? Aber der junge Mann neben ihr hatte ihn doch auch gesehen. Und mehr noch â er wusste um die Gefahr, die von dem Unbekannten ausging. Dutzende von Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, doch stellen konnte sie keine einzige davon.
»Mein Gott, Alba, was ist denn los?« Georg eilte die Stufen herunter und zog Alba zu sich. Sie beachtete ihn kaum und starrte stattdessen auf den jungen Mann, dessen Hand sie nicht mehr halten konnte.
Er erhob sich ebenfalls und schüttete den Schmutz aus dem blonden Haarschopf. Seine dünne Jacke hatte einen Riss an der Schulter abbekommen, darunter trug er ein dunkelblaues T-Shirt. Eine ausgeblichene Jeans, am Saum ausgefranst, vollendete seine Garderobe.
»Ich muss mich für meine Freundin entschuldigen«, sagte Georg, und Alba seufzte. Das war sein Standardsatz
bei den Empfängen, wenn Alba nichts zu dem üblichen Smalltalk beitragen konnte. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
Der junge Mann lächelte Alba zu, als würde Georg gar nicht existieren. »Ich habe schon
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