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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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so konnte sie auf Schutz hoffen.
    Die Kinder wurden lauter, dann weinte das eine und rannte, von dem anderen gejagt, ins Haus. Die Straße, die mit einem Mal so verlassen wie in einem Western dalag, wenn der Bösewicht auf die Stadt zuritt und die Bewohner sich in den Häusern versteckten, bereitete
Alba Unbehagen. Wer würde ihr helfen, sollte sie angegriffen werden? Niemand wusste, was sie vorhatte. Ihre Mutter hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie von der Idee abzubringen; ihr Vater war heute nach München geflogen, und Georg … tja. Etwas hielt sie davon ab, sich ihm anzuvertrauen, obwohl sie nicht wusste, was es war. Vielleicht weil er sie, genauso wie ihre Mutter, für verrückt erklären würde, wenn er aus ihrem Munde von Männern erführe, die über rasende Autos sprangen.
    So wartete sie vor dem Gartentor, doch kein Bösewicht zeigte sich auf dem Hügel. Alba nahm all ihren Mut zusammen und schritt dem Haus entgegen.
    Der Großvater hatte ihr alles vermacht, so besaß sie inzwischen einen Schlüssel, um hineinzugelangen. Der Anblick des zerstörten Wohnzimmers löste in ihr eine Salve von Bildern aus. Egal, wie sehr sie sich bemühte, gelang es ihr nicht, die Erinnerungen zu verbannen.
    Die Truhe!, befahl sie sich. Denk an die Truhe! Nur das ist wichtig.
    Sie kehrte der Zerstörung den Rücken zu und folgte der Treppe ins Obergeschoss. Alba ging langsam, als lausche sie, ob nicht jemand sie heimtückisch überfallen wollte. Das Haus erschien ihr wie ein lebendiges Wesen, das auf etwas wartete.
    Dann stand sie vor dem Arbeitszimmer. Die Truhe war zur Seite geschoben worden, überall Spuren der Polizei, als hätten die Beamten mit dem schwarzen Pulver für die Fingerabdrücke ihr Revier markiert.

    Alba sank vor der Truhe auf die Knie und hob den schweren Deckel an. Ihre Hände zitterten.
    Beruhige dich!, brachte sie sich zur Räson. Da wird nichts herauskriechen, um dich anzuspringen. Wovor hast du Angst?
    Sie holte tief Atem, spähte hinein und ließ die Luft enttäuscht entweichen. Bücher lagen darin, ein kaputter Wecker, Büroutensilien und weiterer Kleinkram. Nichts Spannendes. Sie nahm eine Sache nach der anderen heraus und prüfte sie im Licht. Doch sie suchte vergebens nach geheimen Botschaften. Ob das Möbel über ein verstecktes Fach verfügte? Sie klopfte die Wände und den Boden ab. Nichts. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass dies die im Brief erwähnte Truhe sei!
    Resigniert setzte sie sich auf ihre Fersen. Entweder hatte sie die Botschaft ihres Großvaters falsch verstanden, oder sie deutete etwas in den Brief hinein, was vielleicht gar nicht da war. Ob ihre Mutter Recht hatte und es sich bei Hermann nur um einen alten, verwirrten Mann handelte?
    Alba machte einen Rundgang durch das Haus. Bald stellte sie fest, dass ihr Opa anscheinend Truhen aller Art und Größe gesammelt hatte. Sie waren überall! Im Schlafzimmer hinter dem Bett, als Bank-Ersatz in der Küche – es würde Wochen oder gar Monate dauern, sie alle durchzusehen!
    Das Klingeln an der Tür ließ sie aufschrecken. Plötzlich war die Angst wieder da und zerrte an ihren Nerven. Alba näherte sich der Tür und lauschte. Kein Ton
drang durch das Holz. Wieder läutete die Klingel, dann klopfte es, und schließlich vernahm sie eine weiche, sanfte Männerstimme: »Würden Sie mir bitte aufschließen? Ich habe Ihren Schatten unter der Tür gesehen. Ich versichere, ich beiße nicht und bin stubenrein.«
    Alba öffnete einen Spaltbreit, so weit es die Türkette zuließ, und blickte in dunkelbraune Augen, die in ihr ein seltsames Gefühl der Schwerelosigkeit auslösten. Er war es! Der Mann, den sie vor der Kapelle umgerannt hatte. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder ihm misstrauen sollte, doch ihre Gefühle siegten über ihren Verstand: Sie freute sich. Sie freute sich wie ein Mädchen, das gleich zu ihrem ersten Date abgeholt wird, und schalt sich selbst für diese Hochstimmung.
    Â»Oh«, sagte der junge Mann, und sein Gesicht erhellte sich. »Sie sind es. Ich habe das Auto gesehen und wollte kurz vorbeischauen.« Er deutete auf ihr Mazda-Cabrio, das sie sich bei einer Autovermietung geliehen hatte, solange ihre Corvette fahruntauglich war.
    Auf dem Obstbaum hinter ihm saß ein Greifvogel. Derselbe, den Alba vor der Kapelle gesehen hatte. Die beiden

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