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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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ihren Gefühlen, und sie bemühte sich um Worte, die ihr plötzlich viel schwerer über die Lippen gingen: »Wer war eigentlich der Mann vor der Kapelle, der dann so plötzlich verschwunden war?«

    Sein Gesicht erblasste. »Ich habe dir damals Angst eingejagt, was?« Er vermied es immer noch, sie anzuschauen, und war ihr mit einem Mal wieder fremd. »Da war niemand.«
    Doch!, wollte sie protestieren. Du hast ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen.
    Aber er setzte schnell nach, ohne dass sie auch nur einen Laut von sich geben konnte: »Ich hatte mich geirrt.«
    Alba wandte sich ab und begann, weitere Kartons durchzusehen. Sie fühlte sich von ihm verraten. Er spürte es auch, murmelte noch einmal »Entschuldige«, aber die Vertrautheit, die zwischen ihnen noch vor einer Minute geherrscht hatte, stellte sich nicht wieder ein.
    Was soll’s. Sie konzentrierte sich auf ihre Suche. Aber egal, wie sehr sie sich bemühte, sie konnte nichts finden, was auch nur im Entferntesten eine geheimnisvolle Nachricht wert wäre. Oder doch? Was, wenn sie es in den Händen hielte und nicht erkennen würde?
    Den Deckel der nächsten Holzkiste zierte ein Bild von Rotkäppchen, das auf einer Wiese tanzte und Blumen hochwarf, und einem Wolf, der eher schelmisch als böse hinter einem Baum hervorlugte. Alba schlug den Deckel auf. Spielzeug füllte das Innere. Zuerst wollte sie den Kasten beiseitestellen, dann aber steckte sie ihre Hand hinein. Staubpartikel stoben in die Luft, und plötzlich hatte sie das Gefühl, in die Vergangenheit zu greifen.
    Ihr Großvater hat Sie als Kind oft in die Kirche mitgenommen. Er liebte Sie über alles , kamen ihr die Worte des
Priesters in den Sinn und dann die Szene hinter dem Fenster, wie ihre Mutter davonging und wie Hermann sie aufzuhalten versuchte. Wenn Alba daran dachte, hatte sie das Gefühl, mit ihren Erinnerungen auf des Messers Schneide zu tanzen. Sie taten weh, schnitten ihr in die Seele, und gleichzeitig fürchtete sie sich, einen falschen Schritt zu machen und sie endgültig zu verlieren.
    Alba senkte den Kopf und betrachtete den Hasen, den sie aus dem Kasten herausgeholt hatte. Er sah traurig aus mit seinen Mantelknöpfen statt Augen, einem halbabgerissenen Puschelschwänzchen und den ausgefransten Ohren. Im Aufruhr der Gefühle drückte sie das Kuscheltier an die Brust und vergrub das Gesicht in dem muffigen Stoff.
    Â»Kindheitserinnerungen?«, fragte Finn. Fast hatte sie vergessen, dass er bei ihr war.
    Alba brauchte eine Weile, bis sie die Worte aus den stockenden Silben zusammengesetzt hatte: »Anscheinend habe ich als Kind bei meinem Opa gelebt. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich habe alles verdrängt, fast ein Viertel meines Lebens.«
    Er senkte den Kopf. Die Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und verbargen seine Augen. »Manchmal kann es ein Segen sein.« Seine Stimme klang brüchig. Kurz schwieg er, als müsse er sich zusammenreißen, dann wurde sein Ton wieder gefasster: »Als Teenie habe ich übrigens bei meiner Oma gelebt. Heute bin ich ihr dankbar, dass sie mich im Sturzflug aufgefangen hat, aber damals war ich nicht sonderlich pflegeleicht.«

    Â»Was ist mit deinen Eltern?«, gab sie unter einigen Mühen von sich. Es fiel ihr schwer, ihn das zu fragen, und diesmal nicht so sehr wegen des Stotterns, sondern weil das Gespräch damit eine viel zu persönliche Note bekam.
    Ohne zu blinzeln, sah er ins schwache Licht der Lampe, deren Stoffschirm in Fetzen von einem Drahtskelett hing. »Mein Vater war Mechaniker auf einem Schiff, ich habe ihn kaum gekannt, und irgendwann ist er einfach nicht zurückgekommen. Und meine Mutter führte ein Leben, das mit einem Kind nicht zu vereinbaren war. Wesentlich öfter als meinen Vater habe ich sie auch nicht zu Gesicht bekommen. Und in den Augenblicken, als sie da war, wünschte ich sie zum Teufel.« Das Licht der Lampe warf scharfe Schatten auf sein Gesicht, machte es strenger und gleichzeitig verletzlicher.
    Unerwünscht. Er auch, genauso wie sie. War das der Grund, warum sie in ihm eine vertraute Seele zu finden glaubte? Einen Leidensgenossen, einen Freund, einen … ja, wen? Alba wünschte, sie fände den Mut, ihn zu berühren. Ihn zu umarmen.
    Verrückt, was dachte sie da bloß? Sie war doch keine von denen, die sich jedem Erstbesten an den Hals warfen. Sie war nicht wie ihre Mutter!
    Sie drückte den

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