Nachtseelen
Hasen fester an sich und spürte etwas Hartes in dem Stofftier. In seinem Rücken entdeckte sie ein Loch, wo bei manchen Kuscheltieren eine Spieluhr steckte. Sie schob ihre Hand hinein und holte einen Messergriff heraus. Er lag schwer in ihrer Hand. Mit
dem Daumen befühlte sie die Oberfläche, ertastete einen Knopf und drückte darauf. Das Messer schnappte so schnell auf, dass sie kurz aufschrie.
»Du hast aber mit gefährlichen Sachen gespielt.« Finn grinste.
Sie schloss die Lider.
Eine Dartsscheibe schälte sich aus ihren Erinnerungen heraus, doch darin steckte kein Pfeil, sondern das Messer. Gut so , lobte Opa Hermann. Du wirst immer besser.
Alba riss die Augen auf. Nein, sie fantasierte. Kein vernünftiger Mensch würde einem Kind das Messerwerfen beibringen. Sie lieà die Waffe fallen, als hätte sie sich daran verbrannt.
»Erzähl mir mehr von dir«, gelang es ihr hervorzubringen, und sie spürte, wie Hitze ihre Wangen überzog. Was fiel ihr ein, ihre Nase in sein Leben zu stecken? Aber Finn zierte sich nicht.
Er nahm Puppengeschirr, Autos und Actionfiguren aus der Kiste und legte sie in eine Reihe. »Wäre ich fünfzehn Jahre jünger, wäre ich jetzt grün vor Neid geworden. Nicht wirklich wegen des Puppengeschirrs, aber die Autos sind klasse. Um zu spielen, habe ich mich in einem Besenschrank versteckt. Meine Actionfiguren habe ich mir aus Zeitungspapier ausgeschnitten und Stunden damit verbracht. Eigentlich tat ich nichts anderes, als dazusitzen und die Papiermännchen vor mich hinzudrehen, aber in meinem Kopf war ich in einer ganz anderen Welt â rettete Galaxien vor Klonkriegern, ritt mit Winnetou durch den Wilden Westen und kämpfte
gegen feuerspuckende Drachen.« Er schmunzelte. »Nicht unbedingt in derselben Reihenfolge, aber du weiÃt schon, was ich meine.«
Alba sammelte ihre Kräfte für die nächste Frage: »Warum hast du dich dazu im Besenschrank versteckt?«
»Meine Mutter flippte aus, wenn sie mich so sah. Sie dachte, ich wäre nicht ganz dicht im Kopf. Wenn sie mich dabei erwischte, hat sie mich halbtot geprügelt.«
Man könnte denken, wir hätten dieselbe Mutter, wäre es Alba fast herausgerutscht. Auch wenn die ihre sie nicht geprügelt, sondern sich stets mit ein paar Ohrfeigen zufriedengegeben hatte.
Sie betrachtete Finn etwas länger und bemerkte einen Knick in seinem linken Ohr, der einer Narbe zu verdanken war. Eine weitere Narbe zog sich über seinen Nacken und verschwand im Ausschnitt seines T-Shirts. Finn zupfte sein T-Shirt etwas höher, in einem lächerlichen Versuch, die Narbe zu verdecken. Sein Gesicht wurde noch blasser. »Nein, das ist eine andere Geschichte.«
Ein Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Alba drehte sich um. Ein langer Schatten glitt an der Wand entlang und verschwand zwischen zwei Wäschesäcken.
»Sch-schlange!«, keuchte sie und sprang auf.
Auch Finn war gleich auf den Beinen, stellte sich schützend vor sie und starrte in die Richtung, in die ihr Zeigefinger deutete. Ihn bei sich zu haben vertrieb ihre Angst.
»A-auch deine?«, versuchte sie es mit einem Witz. »Dir zufällig zugekrochen?«
»Quatsch, wie soll eine Schlange hierherkommen?«, murmelte er, ohne auf ihren Scherz einzugehen.
Alba musste die Zähne zusammenbeiÃen, um nicht zu rufen: Warum tust du das? Ich bin nicht verrückt, ich habe sie gesehen!
»Doch«, presste sie hervor. Das Tier maà mindestens einen halben Meter, war fast armdick und schimmerte grünlich. Nichts, was in diesen Breitengraden heimisch sein könnte.
Finn ging zu den Wäschesäcken. Sei vorsichtig , betete sie insgeheim und musste sich zusammenreiÃen, um nicht hinter ihm herzustürzen und ihn von dort wegzuziehen.
Er warf die Beutel auseinander und stöberte mit einem kaputten Regenschirm, der an eine verrenkte Riesenspinne erinnerte, in den herumliegenden Lumpen und Zeitungspapieren. »Siehst du, da ist nichts.«
Mit einem Schlag hatte sich alles an ihm verändert. Irgendetwas plagte ihn, so gequält wie er dreinschaute. Alba erhob sich und ging auf ihn zu. Er wich zurück.
»Ich muss gehen«, beschloss Finn in der nächsten Sekunde. Er machte noch einen Schritt zurück. Nur einen einzigen, aber Alba kam es vor, als stünde er nun auf einer anderen Seite der Welt. In seiner Welt, zu der sie nicht gehörte. »Danke
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