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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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für alles.«
    Sie wollte ihn aufhalten, doch er war schon durch die Luke verschwunden, so schnell, als flüchtete er vor ihr.

    Alba starrte ihm hinterher.
    Schon wieder war er fort, ohne dass sie wusste, wie sie ihn gegebenenfalls erreichen konnte. Ist es Schicksal, dachte sie, dass wir uns immer wieder treffen? Musste sie einfach darauf vertrauen, dass sie ihn wiedersehen würde? Oder ist es Schicksal, dass wir einander verlieren?
    Plötzlich fühlte sie sich einsam. Das war nichts Neues – dieses Gefühl hatte sie oft auch dann gehabt, wenn Georg bei ihr war, und dennoch war es jetzt anders. Etwas fehlte ihr, etwas, was sie nicht missen wollte, nur wusste sie nicht, was es war.
    Resigniert fiel sie vor der Rotkäppchen-Kiste auf die Knie und strich mit der Hand über das Spielzeug. Sie war sich selbst so fremd. Wer war Alba Wagner wirklich? Wer war das Mädchen, dem diese Sachen gehört hatten? Eine Stumme, über deren Kopf hinweg meistens entschieden wurde, oder eine Kämpferin, die mit einem Messer eine Zielscheibe traf?
    Diese Truhe schien etwas Wichtiges zu enthalten. Einen Teil von Alba, der in ihr verstummt und vergessen war. Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und räumte die Sachen wieder ein. Nur der Hase blieb auf ihrem Schoß sitzen, und das Springmesser lag griffbereit an ihrer Seite.
    Schweren Herzens ließ sie den Deckel zufallen und starrte auf das tanzende Rotkäppchen. Wie gern wäre sie ein naives Mädchen gewesen. Wie sehr wünschte sie sich, unbeschwert durch das Leben schreiten zu können. Ob es klug war, schlafende Hunde zu wecken?
Wäre sie vernünftig, würde sie das Haus verlassen und die Angelegenheit vergessen. Doch die Alba, die auf ihre Vernunft hörte, gab es nicht mehr. Sie hatte bereits viel zu viel vergessen! Jetzt war es an der Zeit, einige Erinnerungen abzustauben.
    Ihre Gedanken schweiften zu dem Brief. Wo der Ort? Die Truhe dort! – Wo der Ort? , drehte sich wie ein Karussell in ihrem Kopf.
    Ihr Handy schrillte. Alba schreckte zusammen. Sie kramte in ihrer Handtasche, fischte das Telefon heraus und blickte auf das Display. Eine SMS von Georg: Wo bleibst du?
    Nur wenige Stunden war sie fort, und schon war er kurz davor, einen Suchtrupp nach ihr fahnden zu lassen. Auf einmal fühlte sie sich wie ein auf Bewährung freigelassener Verbrecher: im Prinzip frei, aber unter steter Beobachtung. Noch nie erschien ihr ihre Situation so erdrückend.
    Sie klappte das Handy zu und verstaute es in ihrer Tasche. Grimmig dachte sie daran, wie Georg mit gewölbter Brust Shakespeare rezitierte: Wo der Ort? Die Heide dort! , und beneidete ihn um seine Selbstsicherheit in allem, was er tat. Als läge ihm die ganze Welt zu Füßen. Als könnte er ewig leben. Dabei lief seine Uhr mit jeder Sekunde ab, und er wusste davon.
    Alba strich über den Deckel mit dem lachenden Rotkäppchen auf der Wiese. Und da traf er sie, der Geistesblitz: Die Wiese – sprich, die Heide – war der Schlüssel! Natürlich. Die gesuchte Truhe stand direkt vor ihr. Zumindest
hoffte sie es. Alba schaufelte das Spielzeug aus dem Inneren. Von außen wirkte die Kiste erheblich größer als von innen. Ein doppelter Boden? Sie wagte es kaum, daran zu denken. So nah am Ziel, um dann vielleicht doch eine Enttäuschung zu erleben?
    Sie griff nach dem Messer und steckte die Klinge in eine Ritze zwischen der Bodenplatte und einer der Wände, wackelte daran und versuchte, die Platte hochzuheben. Das Holz knirschte. Es klappte tatsächlich! Nur ein kleines Stück, aber immerhin. Die Aufregung packte sie wie ein Fieber. Mit den Fingernägeln der anderen Hand kratzte und zog sie am Rand der Platte. Einer der Nägel brach ab, doch den Schmerz merkte sie kaum. Ihr ganzes Wesen flatterte, als wäre in ihrer Brust ein Vogel eingeschlossen.
    Nach einem zweiten abgebrochenen Fingernagel gelang es ihr, die Platte herauszuholen. Eine Ledermappe lag vor ihr, rissig und an den Ecken abgewetzt. Ehrfürchtig nahm Alba sie heraus, hielt inne, dann öffnete sie den Fund.
    Ausschnitte aus Zeitungen, Notizen und Kopien irgendwelcher Berichte rauschten einer Lawine ähnlich in ihren Schoß – und die Hälfte einer vergilbten Fotografie, die einen Strand mit einem weiten Himmel und einem lächelnden Mann zeigte. Es dauerte einige Sekunden, bis Alba begriff, wen sie da sah: Den Mörder ihres Großvaters. Sie drehte das Foto

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