Nachtseelen
Schreckens: Ein Mädchen, blutüberströmt, mit wild rollenden Augäpfeln und Schaum an den Lippen zuckt in Konvulsionen. Gurgeln und Krächzen entfahren seiner Kehle, dazu eine Frauenstimme, die nicht dem Mädchen gehört und doch seinem Mund entweicht: Ich habe es mir anders überlegt. Hol den Jungen her.
»Georg«, wimmerte Alba in der Dunkelheit.
Mit der flachen Hand fuhr sie über das Laken. Ihr Blick schweifte zum Wecker, das Display zeigte sechzehn Minuten nach drei.
Der Junge, war das Robert, Mandy Fabels jüngerer Bruder? Was, wenn sie seine letzten Stunden mit ihm verbracht hatte? Aber wer war das misshandelte Mädchen, und warum waren alle Kinder gestorben, sie aber nicht? Fragen über Fragen.
Am gekippten Fenster blähte der Luftzug die Gardinen und lieà Alba frösteln, aber Georg schlief das ganze Jahr über mit geöffneten Fenstern.
»Alptraum. Das war nur ein Alptraum.« Sie rieb sich über das Gesicht und stand auf. Der Boden schien zu
schwanken, als wäre sie auf hoher See. Sie musste sich an der Wand festhalten und tastete sich in den Flur vor.
»Georg?«
Warum antwortete er nicht? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wartete auf das Zittern, das ihren Körper wie Finns durchlaufen würde, bis ihr der Schaum vor den Mund trat. Für einen Moment glaubte sie zusammenzubrechen. Aber natürlich kam nichts, sie war gesund. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand, um den Schwindelanfall zu bekämpfen. In ihrem Kopf schwirrte alles. Am Abend zuvor war sie früh ins Bett gegangen, Georg hatte ferngesehen, das wusste sie noch. War er auf der Couch eingeschlafen?
Blindlings tappte sie vorwärts wie durch ein unendliches Labyrinth, stieg die Treppe hinunter und flüchtete aus dem engen Flur in das Wohnzimmer. Georg war nicht da.
Sie schaltete alle Lampen ein und krümmte sich auf dem Sessel zusammen, die Beine dicht an sich gezogen. An dem Telefon in der Ecke blinkte ein rotes Lämpchen â der Anrufbeantworter hatte eine Nachricht gespeichert. Sie musste nicht aufstehen, um an den Knopf zu gelangen und sich die Aufzeichnung anzuhören. Georgs Tenor erfüllte das Zimmer: »Ich will dich nicht wecken, vermutlich hörst du diese Nachricht erst am Morgen ab. Dann bin ich womöglich schon zu Hause. Im Hotel gibt es Probleme, man hat mich gerade über das Handy informiert. Meine Anwesenheit ist dringend erforderlich.
Bis nachher! Ich liebe dich«, ratterte er ohne Punkt und Komma herunter.
Verärgert grub Alba die Hände in ihr Haar. Er hätte sie wecken sollen! Sie hatte sich fast zu Tode gefürchtet, da sie allein im Haus aufgewacht war und ihn nicht neben sich gefunden hatte. Gleich schämte sie sich für ihren Gram. Georg managte ein Hotel aus der Kette seines Vaters. Klar, dass er hinfahren und nach dem Rechten sehen musste.
Sie sollte sich einen Kaffee machen und versuchen, die andere Hälfte der Nacht totzuschlagen. Nach Möglichkeit, ohne bei jedem seltsam erscheinenden Schatten in Panik zu verfallen. Alba rappelte sich auf und schlurfte in Richtung Küche wie eine alte Frau.
Noch im Flur hörte sie von dort ein Geräusch.
»Georg?«
War er doch schon nach Hause gekommen?
Sie erhielt keine Antwort. Nicht gut. Ãberhaupt nicht gut. Alba kehrte ins Schlafzimmer zurück. Aus der oberen Kommodenschublade holte sie das Springmesser ihres GroÃvaters hervor, das sie unter ihrer Unterwäsche versteckt hatte. Den Griff fest umschlossen, stahl sie sich zur Küche.
Sie schlüpfte durch den Türspalt hinein, als wäre sie ein Dieb, und knipste das Licht an. Auf der Fensterbank neben dem gekippten Fenster hockte eine getigerte Katze und zuckte mit der Schwanzspitze. Alba erkannte sie sofort. Es war die Katze, die den Vogel bei Juliane Dwenger angegriffen hatte!
Rücklings stolperte Alba zurück in den Flur. Die Katze sprang auf den Boden und flitzte zu ihr. Vor der Nase des Tieres schlug Alba die Tür zu. War sein Frauchen bereits im Haus? Bestimmt hatte die Fremde Georg unter einem falschen Vorwand aus dem Haus gelockt, um sie anzugreifen! Das Messer in ihrer Hand kam ihr mit einem Mal lächerlich vor. Ebenso gut hätte sie sich auch mit einer Wasserpistole rüsten können.
Alba hastete ins Wohnzimmer und riss den Hörer von der Basisstation. Mit fahrigen Fingern tippte sie den Notruf ein. Es wurde abgenommen. Doch wie damals im Haus ihres
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