Nachtseelen
den Bäumen und den Sträuchern. Das Rauschen der Blätter vermischte sich mit dem Rauschen in Albas Kopf.
»Finn!«, rief die Frau aus der Dunkelheit. »Zwinge mich nicht, dich und sie zu holen.«
Mit einem Ruck zog Finn Alba zur Seite. Ein Betäubungspfeil bohrte sich in den Baum, vor dem sie gerade noch gestanden hatten.
»Ich schätze, der hier galt mir. Schnell, wir müssen fort. Vertraue mir.«
Vertrauen? Nach alldem, was passiert war? Nach alldem, was sie über ihn erfahren hatte?
Irgendwo hinter sich hörte Alba das Fauchen des Rattenmädchens, dann folgten Kampfgeräusche, die schnell verstummten.
Finn zog sie weiter mit sich, ohne dass sie die Kraft gehabt hätte, sich ihm zu widersetzen. Sie registrierte
kaum noch, wohin sie ging. Unter ihren nackten Sohlen fühlte sie Pflastersteine.
Alba wurde immer weiter geschleppt und gezerrt. Sie setzte brav einen Fuà vor den anderen. Die Dunkelheit schien alles ringsherum zu verschlingen, nicht einmal das Licht der StraÃenlaternen vermochte sie noch zu durchdringen. Wo laufe ich hin?
Der Rotmilan flatterte an ihr vorbei und stieà ein warnendes Krächzen hervor. Dann spürte sie einen Stich im Rücken. Der nächste Pfeil hatte sie getroffen. Weitere Schritte, geradeaus. Viele Schritte, die sie nicht mehr zählte. Dann zerfloss der Boden unter ihren FüÃen, und sie sank in die rettende Ohnmacht.
Kapitel 12
A lba wachte auf, zog es jedoch vor, die Augen geschlossen zu halten. Sie fühlte sich wohl und gut erholt und genoss den Zustand der Ruhe, der ihre Seele liebkoste. Das durfte sie so selten erleben! Leicht traurig dachte sie an den Moment, an dem sie aufstehen müsste. Aber sie konnte nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Georg würde â¦
Die Erinnerungen überfluteten ihren Verstand so plötzlich, als hätten die Bilder bloà darauf gewartet, sie hinterhältig zu überfallen: Die Katze, die Frau, die Flucht â Alba riss die Augen auf und starrte auf den dreiarmigen Deckenleuchter. Einen fremden Deckenleuchter, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Wo befand sie sich? Nicht bei Georg, so viel stand fest.
Einatmen.
Ausatmen.
Zumindest lebte sie noch, das war schon viel wert.
Alba lieà ihren Blick umherschweifen, ohne sich zu bewegen und damit auf sich aufmerksam zu machen. Wer auch immer sie hierherverschleppt hatte, musste nicht gleich erfahren, dass sie nun wach war.
Die schweren Gardinen vor den Fenstern verdunkelten
das Zimmer, und sie konnte nicht erkennen, wie spät es sein mochte. Eine Salzkristalllampe, direkt auf dem Boden aufgestellt, verströmte orangefarbenes Licht, das den Raum gemütlich wirken lieÃ. An der Wand gegenüber stand ein Schrank aus dunklem Holz, mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Daneben stapelten sich Umzugskartons. In den oberen lagen unordentlich einige foliengeschützte Anzüge und Damenkleider.
Im Spiegel an der Schranktür sah sie Finn. Er saà auf dem FuÃboden neben ihrem Bett, eine Wange auf der Matratze, und schlief. Alba drehte den Kopf und betrachtete ihn. Auf seiner kreidebleichen Haut zeichneten sich die Schatten noch dunkler ab, als sie in Wirklichkeit waren. Die Augen bewegten sich unter den Lidern. Etwas schien ihn im Schlaf zu quälen, Alba glaubte sogar, ihn leise »Nein« stöhnen zu hören. Ein Alptraum? Er sah verletzlich aus, und ein Hauch von Mitgefühl regte sich in ihr, den sie aber gleich vertrieb. Dass er aussah wie ein netter Junge von nebenan, konnte sie nicht mehr trügen. Inzwischen kannte sie die Wahrheit.
Ruckartig setzte sich Alba auf. Von ihr aufgeweckt, fuhr er mit einem erstickten Ausruf hoch. Mit alarmiertem Blick suchte er das Zimmer ab, als wüsste er im ersten Moment nicht, wo er sich befände. Erst als er Alba anschaute, beruhigte er sich etwas.
»Du bist wach!«, seine Stimme klang rau. Er räusperte sich, suchte ihren Blick und wandte sich ab, sobald sie ihn direkt ansah. »Wie fühlst du dich?«
Das geht dich nichts an , dachte sie. Die Worte, die ihr immer so schwerfielen, vergeudete sie nicht an ihn.
»Ich weiÃ, du bist sauer auf mich«, fuhr er fort. Seine Nähe, seine Sorge um sie bereiteten ihr einen Kummer, den Alba nicht zulassen durfte. Nein, sie war nicht sauer auf ihn. Sie wollte es nicht sein. Sie wollte überhaupt kein Gefühl zulassen, das ihr Schmerz bringen
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