Nachtseelen
hineinstahl. Hier war es noch dunkler, das fahle Licht von drauÃen erreichte kaum die Innenräume. Jeder Schritt wirbelte Staub hoch. Drahtknäuel und herabhängende Kabel erinnerten an die Innereien eines erlegten Ungeheuers.
Keine Spur von dem Mädchen, kein Ton verriet sein Versteck. Wie sollte sie es hier bloà finden? Vermutlich hatte es das Gebäude schon längst verlassen. Alba schlich durch die Gänge, Treppen und Räume, die ihr bald wie ein Labyrinth vorkamen.
Dann hörte sie ein Geräusch. Sie konnte nicht benennen, was es war, steuerte aber darauf zu, bemüht, keinen Lärm zu verursachen.
Bis sie im Türrahmen zu einer Halle stand.
An der gegenüberliegenden Wand kauerte die junge Frau. Im Halbdunkel konnte Alba sie kaum als menschliches Wesen ausmachen, so reglos und zerlumpt, wie sie da hockte. Die Ratte kletterte ihr an der Kleidung hoch und hinunter, ohne auch nur eine Minute stillzuhalten. Und vor dem Mädchen lag ein Körper, auf dessen Brust der Greifvogel ruhte.
Finn! Alba schlug sich die Hand vor den Mund, fast hätte sie seinen Namen herausgeschrien. Sie wollte zu ihm laufen, doch die junge Frau fuhr auf und fauchte,
kroch knurrend auf sie zu. Wie ein Tier, das sein Revier verteidigte. Trotzdem wagte Alba sich näher. Wie gebannt starrte sie auf den leblosen Körper des Mannes, den sie insgeheim so sehr wiederzusehen gehofft hatte. Aber nicht so.
Er atmete nicht! Ihr Magen verkrampfte sich. Sie dachte daran, wie sie ihm ihre Hand auf die Lippen gelegt hatte, und schien die Berührung noch an ihren Fingern zu spüren. Sie erinnerte sich, wie sehr sie mit sich gekämpft hatte, um ihn nicht in ihr Herz zu lassen. Jetzt gab es nichts zu kämpfen. Sie könnte ihn umarmen, und er würde nie etwas davon erfahren.
Ihr Hals schmerzte vor unterdrückten Tränen. Er würde nie erfahren, wie sehr er ihre Gefühle durcheinandergeworfen hatte. Wie lebendig sie sich in seiner Gesellschaft fühlte. Wie normal. Und erwünscht.
In Trance machte sie noch einen Schritt. Mit einem spitzen Schrei sprang das Rattenmädchen sie an. Alba stürzte zu Boden, etwas Scharfkantiges bohrte sich in ihren Rücken, während die Angreiferin jaulend an ihren Haaren zerrte. So viel Kraft und Wut hätte sie in diesem ausgemergelten Wesen nicht erwartet.
Endlich gelang es ihr, die Gegnerin abzuschütteln. Die Verrückte sammelte sich zu einem neuen Angriff, als Finn stöhnte. Alba keuchte erschrocken und richtete sich auf. Das Rattenmädchen wandte sich ihm zu, alles andere war in derselben Sekunde vergessen.
Ein Ruck ging durch Finns Körper. Er bäumte sich wie unter Schmerzen auf und rang mit schnellen Atemzügen
nach Luft. Der Vogel rutschte von seiner Brust und zappelte auf dem Boden, strampelte mit den FüÃen und versuchte sich aufzurappeln, sichtlich benommen.
Das Mädchen krabbelte zu Finn und hielt seinen Kopf im SchoÃ, damit er sich nicht verletzte. Mit der anderen Hand riss es ein Stück von seinem Kleid ab und tupfte ihm den Schweià von der Stirn.
Nur langsam kam er zu sich. Sein trüber Blick irrte ziellos umher, ohne etwas zu registrieren. Die Verrückte wiegte ihn hin und her, murmelte etwas in einem seltsamen Singsang, der ihn zu beruhigen schien.
Er blinzelte mühsam, als würde er nicht einmal dazu die Kraft haben, und realisierte erst jetzt, was um ihn herum geschah.
»Ylvi«, krächzte er â ein Geräusch wie ein Vogellaut. »Was ⦠was tust du hier? Wo bin ich? Hast du mich hierhergebracht? Wie lange liege ich hier schon.«
»Scht! Scht!«, stieà sie hervor und funkelte Alba durch das verfilzte Haar an.
Finn drehte den Kopf. Sein matter Blick klärte sich, und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Er betrachtete Alba wie eine Fata Morgana, von der er wusste, dass sie nur ein Trug war.
»Finn«, rief sie ihn. Ganz ohne zu stottern.
Dafür fiel es ihm sichtlich schwer zu sprechen: »Du. Du hast mich beschützt ⦠gerettet. Aber ⦠was hast du bei meiner Oma getan?«
Seiner Oma? Alba runzelte die Stirn. Juliane Dwenger war seine Oma? Was für ein seltsamer Zufall.
»Warum hast du mich gerettet? Micaela ⦠Oh Gott. Alba! Du bist in Gefahr, verstehst du das denn nicht? Jeder, der mir nahesteht, ist in Gefahr. Du musst dich in Sicherheit bringen!« Er versuchte sich aufzurichten. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, und
Weitere Kostenlose Bücher