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Nachtseelen

Titel: Nachtseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krouk Olga
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Alba bekam Angst, er würde gleich ohnmächtig werden.
    Sie legte ihm die Finger auf die Lippen und drückte die Hand gegen seine Schulter, damit er liegen blieb. Eine einfache Geste, die ihr das Herz dennoch bis zum Hals schlagen ließ. Vielleicht, weil sie es sich so sehr verbat, daran zu denken, was für ein Durcheinander seine Nähe in ihr auslöste. Und vor allem: warum. Denn sie hatte Georg. Es war falsch, einem anderen zu erlauben, ihren Kopf … ihre Seele … so zu beherrschen.
    Finn nahm ihre Hände von sich, ließ sie aber nicht los, und machten einen neuen Versuch, sich aufzusetzen. »Alba, begreifst du denn nicht, was das bedeutet?«
    Dass ich gerade dabei bin, mich in dich zu verlieben? Nur weil du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören? Nein! Das durfte sie nicht zulassen. Das gehörte zu den verbotenen Gefühlen, weggeschlossen und vergessen. Plötzlich wurde Alba bewusst, dass er immer noch ihre Hände in den seinen hielt, und sie zog sie ruckartig zurück.
    Â»Du darfst hier nicht bleiben. Micaela …« Erschöpft ließ er sich fallen. »Ich hoffe nur, sie weiß nicht, wer du bist, und wird dich nicht finden.« Er brach ab und schnappte nach Luft. Ein Schweißfilm überzog sein Gesicht. Finn keuchte auf. »Oh nein, es fängt schon wieder
an …« Er krümmte sich und presste ein letztes Wort hervor: »Geh!«
    Ein Zucken durchfuhr ihn. Sein glasiger Blick fixierte den Vogel, und die Leere in seinen Augen jagte Alba Angst ein. Ein Grollen entfuhr seiner Kehle.
    Die Schatten um sie herum schienen sich auszudehnen, als würden sie das Licht verschlingen.
    Eine Treppe, Finsternis, ein Körper in Konvulsionen.
    Der Alptraum durchdrang Alba, ohne dass sie schlief, und sie konnte nicht genau sagen, was sie sah und was ihr Hirn ihr nur vorgaukelte. Die Schreckensbilder überfluteten die Wirklichkeit.
    Alba sprang auf, taumelte einen Schritt zurück. Dann noch einen. Die Dunkelheit griff nach ihr, eine feuchte Kälte legte sich um ihre Knochen. Nicht zusehen, nicht zusehen! – das Flehen eines Mädchens, das sich irgendwo tief in ihr versteckte.
    Sie machte noch einen Schritt zurück. Auf Finns Lippen bildete sich Schaum, und die Zuckungen seines Körpers wurden stärker. Das Rattenmädchen versuchte ihn zu packen, um ihn vor Verletzungen zu bewahren, doch er schnappte nach ihm, als wolle er es beißen.
    Opa, hilf mir!
    Alba stolperte weiter rückwärts. Mit dem zehnten Schritt stand sie in der Mitte der Halle, mit dem zwanzigsten im Flur.
    Monster, überall Monster! Und kein Entkommen.
    Es fiel ihr leicht, sich umzudrehen und zu fliehen. Niemand hielt sie auf. Niemand rief nach ihr.

    Schuldgefühle. Etwas, was sie inzwischen gut kannte. Doch so heftig wie nach ihrer Flucht waren sie noch nie gewesen. Wie hatte sie bloß davonlaufen und Finn in seinem Zustand zurücklassen können? Sie vermochte es sich nicht zu erklären. Und dennoch hatte sie es getan, als wäre das Erlebte nicht real gewesen. Nur ein Alptraum, dem sie entfliehen musste.
    Am nächsten Morgen fuhr sie zu der Baustelle und streifte durch die leeren Hallen, doch vergebens. Sie fand weder Finn noch das Rattenmädchen oder den Vogel. Auch bei Juliane Dwenger traf sie keinen an.
    In den ersten Tagen danach schlich Alba ruhelos durch Georgs Haus, als warte sie auf etwas, was sie aus ihrem Trott reißen würde. Aber es geschah nichts. Draußen hielt sie Ausschau nach dem Rotmilan, doch kein Greifvogel zeigte sich am Himmel. Und auch Finn traf sie nicht wieder.
    Bald holte der Alltag sie ein, und das Einzige, was ihr blieb, waren die Alpträume, die umso öfter und intensiver über sie herfielen.
    Â 
    Werden wir sterben?
    Nein, das werden wir nicht. Die Stimme eines Jungen. Ein Gesicht. Sie kann es nicht erkennen, obwohl sie sich anstrengt. Es ist wie hinter einem Schleier verborgen, so nah und doch unendlich fern. Diese Stimme und das Gesicht sind für sie ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit. Alles wird gut.
    Gut …

    Das Gesicht beginnt zu zerfließen. Sie streckt ihre Arme aus und tapst vorwärts. Bloß nicht allein in der Finsternis bleiben!
    Etwas packt sie am nackten Knöchel. Eine kalte, feuchte Hand. Sie blickt hinunter und schreit …
    â€¦ schreit …
    â€¦ schreit …
    Immer noch schreiend, fuhr Alba aus dem Schlaf hoch. Jedes Blinzeln jagte wieder das Bild des

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