Nachtseelen
So holte Evelyn ein paar Zeitungen, öffnete den Schrank und begann, die restlichen Sachen, die noch darin standen, in das Papier einzuwickeln und in den Umzugskartons zu verstauen.
Adrián fuhr fort: »Durch mich hat Hermann meine Halbschwester Alba kennengelernt. Und kaum ein Jahr danach haben die beiden geheiratet â meine Familie war streng katholisch, anders wären sie einander niemals nähergekommen â und schlieÃlich für Nachwuchs gesorgt.
Währenddessen bin ich an einer Lungenentzündung erkrankt. Ich wusste, ich würde es nicht mehr lange machen,
egal, was die Ãrzte auch versuchten. Eines Tages bin ich eingeschlafen â zumindest kam es mir so vor -, und als ich aufwachte, fand ich mich in einem Sarg wieder. Noch wusste ich nicht, was passiert war. Ich konnte mich nicht bewegen, spürte keine Schmerzen mehr, abgesehen von dem Hunger, der in mir wütete. Doch der trieb mich an den Rand des Wahnsinns. Ich wollte sterben â ohne zu begreifen, dass ich bereits tot war.«
Vielleicht war Alba bereits zu geschafft, um sich über den Bericht noch wundern zu können. Sie lieà die Wörter auf sich herabprasseln, während sie still auf der Couch saà und gegen ihre Kopfschmerzen und Ãbelkeit ankämpfte.
»Irgendwann merkte ich, dass es mir besserging, wenn ich an meine Familie dachte, mir ihre Gesichter, Stimmen, Gestik vorstellte. Meine Schwester war die Erste, zu der ich einen mentalen Kontakt aufbaute, ohne zu wissen, was ich damit anrichtete. Ich hatte schon immer eine ganz enge Bindung zu ihr. Seit Kindertagen waren wir unzertrennlich. Und es wurde ihr zum Verhängnis. Während ich im Sarg lag, kam es mir so vor, als wäre ich in ihr, würde durch sie die Welt sehen, hören, riechen und schmecken. Es waren nicht meine Empfindungen, sondern nur Echos dessen, was sie fühlte. Aber sie stärkten mich und stillten den Hunger. Ich kam immer mehr zu Kräften â sie wurde mit jedem Tag schwächer.
Ich wollte sie nicht quälen. Jedes Mal versprach ich mir, nicht mehr an sie zu denken, doch sobald der Hunger
über mich herfiel, konnte ich nicht anders. Bald erkrankte sie an einer Lungenentzündung. Egal, was die Ãrzte auch versuchten, nach mehreren qualvollen Wochen starb sie daran. Und ich wurde ein klein wenig lebendiger, ich konnte mich bewegen. Nur ein bisschen, und es kostete eine immense Kraft, aber ich fühlte mich freier. Doch um aus dem Sarg herauszukommen, reichte das noch lange nicht. Ich wusste, dass ich meiner Familie den Tod bringen würde. Ich konnte nichts dagegen tun. Als Nächstes raffte die Lungenentzündung meinen Bruder Alejandro dahin und schlieÃlich meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits eine gebrochene Frau war â musste sie doch nacheinander ihre drei Kinder begraben. Danach wäre mir sicherlich Hermann zum Opfer gefallen, denn nach meiner Familie stand er mir am nächsten. Aber ich war bereits stark genug, um aus dem Sarg herauszukommen â als ein Wiedergänger, ein Geist -, und ich musste nicht mehr diejenigen töten, die mir nahestanden.«
»Waren auch kaum noch welche übrig geblieben«, warf Finn mit finsterer Miene ein. Die beiden Männer sahen einander an, und es war keine Liebe, die zwischen ihnen herrschte. Alba rätselte, warum Finn hier Zuflucht gesucht hatte, wenn er diese â Wesen? â so sehr verabscheute.
»Lebensenergie brauchte ich trotzdem«, erzählte Adrián weiter, ohne auf die Bemerkung einzugehen, »aber ich konnte mir meine Opfer aussuchen und diejenigen aussaugen, an denen mir nichts lag. Es passierte meistens
nachts, denn da fühlte ich mich am stärksten. Die Sonne entzieht uns die Energie. Ich stahl mich in ihre Schlafzimmer, setzte mich auf ihre Brust und trank von ihrer Seelenkraft. Und wurde immer realer, kam Schritt für Schritt aus der Schattenwelt heraus.«
»U-und sie sta-arben an ei-ein-n-ner Lungen-en-entzündung?« Es überraschte Alba, wie wenig ihr der Bericht zusetzte. Als wäre sie bereits zu abgestumpft, um irgendwelche Schreckensvorstellungen von ausgesaugten Menschen an sich heranzulassen.
Er nickte. »Ja. Alle. Wenn ein Nachzehrer langsam die Energie zu sich nimmt â was besser sättigt -, sterben die Opfer irgendwann an der Krankheit, an der einst der Nachzehrer gestorben war. Wenn er gierig und unkontrolliert die Kraft aussaugt, ist es stets die Beulenpest.
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