Nachtseelen
verstanden, dass er durch seine Besessenheit seine Tochter verloren hatte, den einzigen Menschen, der einen Teil seiner Frau in sich trug. Diesen Fehler wollte er nicht ein zweites Mal begehen.
Also suchte er mich auf. Kurz danach habe ich dich aufgespürt, wie du ziellos durch den Hafen streiftest, blutüberströmt, aber unverletzt. Zumindest äuÃerlich. Du sagtest kein Wort und warst total verstört, als würdest du in deiner eigenen Welt verweilen. Ich brachte dich zu deinem Opa. Er begriff, dass du nie mehr in ein normales Leben zurückfinden würdest, solange dich die Erinnerungen an die Entführung plagten. Also nahm
ich dir mit dem Einverständnis deines GroÃvaters diese Erinnerungen. Wobei es kein wirkliches Nehmen ist, es ist eher ein gutes Verstecken. Sie sind noch da, aber du gelangst nicht mehr an sie heran, als wären sie hinter einer Tür weggesperrt, deren Schlüssel du verlegt hast. Diese â ähm â Behandlung hast du nicht so gut weggesteckt, wie wir gehofft hatten, aber du warst wieder bei Verstand.«
Deshalb also! Deshalb kam ihr Adrián schon bei der ersten Begegnung so bekannt vor, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Natürlich, als Kind.
»W-wenn ⦠wenn d-du sie mir wegâ¦Â« Sie sammelte Kräfte, um weitersprechen zu können: »Wenn du sie mir wegnehmen konntest, die Erinnerungen, kannst du sie mir dann auch zurückgeben?«
Gedankenverloren rieb er sich seine rechte Hand. »Ja.«
Dann mach es! Bitte. Ich will sie zurückhaben!, flehte Alba ihn stumm an.
Adrián schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist zu gefährlich, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Gier genügend unter Kontrolle halten kann, um alles wiederherzustellen. AuÃerdem: In Hermanns Haus habe ich mich an dir genährt. Wer weiÃ, wie viel es war. Wenn ich es noch einmal tue, könnte es bereits ausreichen, damit du meine Krankheit bekommst. Also lass die Vergangenheit ruhen. Glaub mir, du bist besser dran, wenn du dich an nichts mehr erinnern kannst.«
Sie wollte protestieren, zügelte aber ihren Eifer.
Nichts überstürzen! Mit einem Nicken deutete sie auf seine rechte Hand, die er immer noch massierte. Was ist eigentlich damit passiert? Seid ihr doch nicht so unverwundbar, wie es scheint?
»Linnea hat sie mir zertrümmert. Anscheinend ist da etwas kaputtgegangen, was sich nicht mehr regenerieren kann. Nun, neue GliedmaÃen wachsen uns eben nicht nach. Jetzt muss ich üben, mich hauptsächlich auf meine Linke zu verlassen.« Er kehrte zu seiner Erzählung zurück: »Also. Dein Opa und ich begriffen, dass wir im Grunde ein Ziel hatten. Er wollte mich töten, und ich wollte nicht existieren, so wie ich existieren musste. Doch wir konnten den Fluch, der mich untot machte, nicht besiegen. Nur eine Mächtige ist imstande, ihn zu revidieren.«
Alba runzelte die Stirn. Eine Mächtige?
»Die Menschen bezeichnen sie als Hexen, aber in Wirklichkeit sind sie die Götter des Altertums.«
Die Zeilen des Briefes zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Die Macbeth-Strophen. Am Rande ihrer Wahrnehmung erklang Georgs Stimme: Wusstest du, dass die Hexen von einigen Literaturexperten als die wahren Hauptfiguren des Stückes gesehen werden?
Hexen! Waren sie auch die Hauptfiguren des Stückes, in das sie geraten war? Wollte ihr Opa sie davor warnen? Wenn sie bloà wüsste, was all das zu bedeuten hatte!
»Die Jahre danach haben dein Opa und ich zusammen nach einer Mächtigen gesucht. Vor kurzem meinte
Hermann, er habe endlich eine Spur, er wisse, was zu tun sei, und es klappe ganz sicher. Und dann ⦠dann fand ich seine Leiche und wurde von dir erwischt.« Er machte eine Pause. »Puh. Ich glaube, mein Mund ist schon ganz fusselig. Wie ärgerlich, dass ich nicht einmal ein Glas Wasser trinken kann.«
Wollte er ihr weismachen, er hätte ihren GroÃvater nicht umgebracht? Alba warf einen argwöhnischen Blick auf Evelyn, die auf dem Boden kniete und die Kartons einräumte. Könnte er ihn nicht vielleicht getötet haben, weil er nicht mehr sterben wollte?
»Ich verstehe dein Misstrauen«, sagte er. »Und die Fakten sprechen gegen mich. In der Tat hatte ich zu dieser Zeit bereits Evy kennengelernt und mich in sie verliebt. Doch ich habe deinen Opa trotzdem nicht ermordet.«
Evelyn unterbrach ihr Rascheln mit dem Zeitungspapier und legte eine kleine Staute, die
Weitere Kostenlose Bücher