Nachtsplitter
Wimperntusche war etwas verlaufen, aber es sah nicht weiter schlimm aus.
Jakob kam mit zwei Plastikbechern zu mir rüber und drückte mir einen davon in die Hand.
»Danke.« Ich lächelte ihm zu. »Worauf trinken wir?«
»Auf den Weltfrieden«, sagte er.
Ich starrte ihn verblüfft an. Im letzten Moment entdeckte ich das spöttische Glitzern in seinen Augen und musste lachen. »Fast
hättest du mich überzeugt.«
Jakob grinste. »Wovon? Davon, dass ich Pazifist bin?« Er stieß mit mir an. »Eine Welt ohne Gewalt gibt es nicht. Und wird
es auch nie geben.«
Diesmal schien er es tatsächlich ernst zu meinen. Ich trank einen Schluck Bier. »Vielleicht. Aber Gewalt ist keine Lösung.«
»Wirklich nicht?« Er sah mich nachdenklich an.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Zumindest keine gute.«
»Was ist dann die Lösung?«
Ich grinste und hielt meinen Becher hoch. »Alkohol!«
Ich trank das Bier in einem Zug aus. In meinem Magen rumorte es. Morgen würde ich einen Kater haben, aber das war mir egal.
Ich hatte Lust, meine Grenzen auszutesten. »Die nächste Runde geht auf mich.«
Jakob kippte sein Bier ebenfalls hinunter, bevor er mir seinen Becher reichte. Er stellte keine Fragen und das gefiel mir.
Wenn er den Mund hielt und sich dieses spöttische Grinsen sparte, war er eigentlich gar nicht so übel. Vielleicht war der
Abend ja doch noch zu retten.
6
Als ich erwachte, hatte ich einen pappigen Geschmack im Mund. Meine Zunge war geschwollen, mein Hals schmerzte. Ich stöhnte
und setzte mich langsam auf. Leider nicht langsam genug. Wie kleine Blitze schoss der Schmerz durch meinen Schädel. Gleichzeitig
hämmerte es hinter meinen Schläfen. Ich hörte ein gleichmäßiges Rauschen. Es klang wie eine Tonstörung im Radio. Erst nach
einer Weile begriff ich, dass sich das Rauschen in meinem Kopf befand. Ansonsten war alles um mich herum still und dunkel.
Doch das Schlimmste war: Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.
Ich blinzelte und versuchte, mich zu orientieren. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war sie nicht
mehr ganz so undurchdringlich. Ich sah Sitze aus abgewetztem Leder, ein verstaubtes Armaturenbrett und jede Menge Müllim Fußraum. Mein Gehirn setzte die Informationen langsam zusammen.
Kein Zweifel, ich lag in einem Auto.
In wessen Auto?
Jemand hatte den Beifahrersitz heruntergekurbelt und mich zugedeckt. Mit einem zerknitterten Schlafsack, der etwas muffig
roch und viel zu warm war.
Wer? Und warum?
Mühsam schälte ich mich aus dem Schlafsack – und erstarrte. Mein Rock war verschwunden! Ich trug nur Slip und T-Shirt , beides ziemlich verschwitzt. Beine und Füße waren nackt. Ich tastete unter mein T-Shirt und atmete erleichtert auf, als ich merkte, dass sich der BH noch an Ort und Stelle befand. Wenigstens etwas.
Ich runzelte die Stirn und versuchte nachzudenken. Mein Kopf zerplatzte fast vor Anstrengung, während ich mir alle Mühe gab,
Antworten auf die wichtigsten Fragen zu finden.
Wo war ich?
Wie war ich hierhergekommen?
WAS WAR PASSIERT?
Ganz langsam kam mein Gehirn in Schwung. Es arbeitete im Zeitlupentempo und zeigte mir nur einzelne, unzusammenhängende Bilder.
Erinnerungsfetzen.
Jakob und ich prosten uns zu. Beim wievielten Bier sind wir? Keine Ahnung. Ist auch egal. Da ist noch jemand.
Ein Typ, den ihn noch nie gesehen habe. Schwarze, ölige Haare. Oberlippenbärtchen. Schmaler Mund. Das Lächeln genauso schmierig
wie die Frisur.
Wer ist das?
Ich schwanke, der Typ stützt mich. Er sagt etwas. Ich lache.
Und dann?
Ich grub in meiner Erinnerung, immer tiefer, aber ich fand nichts. Da war nur ein schwarzes Loch. Panik überkam mich, ich
begann zu zittern. Wie war ich in dieses verdammte Auto gekommen? Mein Atem ging immer schneller und mir wurde flau im Magen.
Es passierte so plötzlich, dass ich gerade noch die Autotür aufreißen und mich hinausbeugen konnte. Der halb verdaute Inhalt
meines Magens ergoss sich ins Gras. Ich würgte und hustete. Tränen liefen mir über das Gesicht.
Als es vorbei war, lehnte ich mich erschöpft zurück. Ich ließ die Autotür offen. Die Nachtluft strich angenehm kühl über mein
Gesicht. Wann hatte ich zuletzt gekotzt? Es musste eine halbe Ewigkeit her sein. Ich hatte gar nicht mehr gewusst, wie widerlich
das war. Mein Mund fühlte sich an, als wäre jemand mit Schmirgelpapier über die Schleimhäute gefahren. Ich spuckte ein paarmal
ins Gras, aber der ekelhafte
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