Nachtsplitter
sein. Obwohl mir der Schweiß auf der Stirn stand, wurde
mir kalt. Fröstelnd schlang ich die Arme um den Oberkörper und ging weiter. Bei jedem Knacken im Wald zuckte ich zusammen,
doch ich begegnete keiner Menschenseele.
Als links von mir der große Platz auftauchte, war es, als würde ich aus einem Albtraum erwachen. Ich warf einen flüchtigen
Blick hinüber. Die Bühne war dunkel und verwaist, die Getränkebuden waren geschlossen. Trotzdem standen noch erstaunlich viele
Leute herum. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber das Festival musste längst vorbei sein. Dafür sprach auch die Atmosphäre
auf dem Platz, die sich völlig verändert hatte. Von Party und Ausgelassenheit keine Spur, die Stimmung war eher gedrückt.
Es war sehr ruhig, abgesehen von einem Betrunkenen, der auf eine der verrammelten Getränkebuden eindrosch und lautstark fluchte.
Dann sah ich das Polizeiauto am anderen Ende des Platzes. Das Blaulicht war eingeschaltet und tauchte die Gesichter der Umstehenden
lautlos in kränkliches, blinkendes Licht. Zwei Polizisten standen ein Stück vom Auto entfernt und redeten miteiner Gruppe Festivalbesucher. Vielleicht machten sie mal wieder Alkohol- oder Drogenkontrollen.
Ich wandte mich ab und ging weiter, dorthin, wo Pia und ich unsere Fahrräder abgestellt hatten. Ich wollte nur noch weg. Pia
war wahrscheinlich längst abgehauen, dabei hatte ich heute eigentlich bei ihr schlafen wollen. Und Markus? Jetzt hätte ich
nichts dagegen gehabt, mich in seine Arme zu schmiegen, seinen vertrauten Geruch einzuatmen, mich in Sicherheit zu fühlen.
Aber er war bestimmt auch schon gefahren. Hoffentlich war wenigstens mein Rad noch da. Nach allem, was passiert war, auch
noch den ganzen Weg nach Hause laufen zu müssen, wäre der absolute Supergau.
Ich war so in Gedanken versunken, dass die Stimme erst beim zweiten Mal in mein Bewusstsein drang. Jemand rief meinen Namen.
Ich blieb stehen und drehte mich um. Pia lief auf mich zu. Erst als sie direkt vor mir stand, fiel mir auf, wie blass sie
war. Ihre Haut sah beinahe durchscheinend aus. Ihre Haare waren zerzaust und von ihrem sorgfältig aufgetragenen Make-up war
kaum noch etwas übrig. In den Mundwinkeln klebten Reste von Lippenstift.
»Jenny!« Sie zögerte kurz, bevor sie mich umarmte. »Ich hab dich überall gesucht.«
»Ich dich auch«, sagte ich automatisch.
Pias Mundwinkel zuckten. »Etwas Schreckliches ist passiert. Es hat einen Unfall gegeben.«
7
»Einen Unfall?« Ich hörte Pias Worte, aber ich verstand sie nicht. Nur ganz langsam wurde mir ihre Bedeutung klar.
»Ja, auf der Autobahn.« Pia sah mich nicht an.
Plötzlich wurde mir eiskalt und meine Kopfhaut begann zu kribbeln. »Ist was mit Markus?«
Unser Streit fiel mir wieder ein. Und wie Markus mich angesehen hatte, als ich weggerannt war. Furchtbare Bilder blitzten
in meinem Kopf auf: Markus, der auf dem Geländer der Autobahnbrücke balanciert, mit ausgestreckten Armen und geschlossenen
Augen. Ein paar Schritte geht alles gut, dann schwankt er, tritt ins Leere, fällt . . .
»Markus?« Endlich erwiderte Pia meinen Blick. In ihren weit aufgerissenen Augen blitzte für einen Moment so etwas wie Panik
auf, dann hatte sie sich wieder im Griff. »Nein, nicht dass ich wüsste. Wie kommst du darauf?«
Ich zuckte mit den Schultern. »War nur so ein Gefühl. Wir haben uns vorhin gestritten.« Ich kniff die Augen zusammen und fuhr
mir mit der Hand über die Stirn, als könnte ich so die bohrenden Kopfschmerzen wegwischen. Und den Nebel, der mein Gehirn
einhüllte und meine Erinnerung vor mir selbst verbarg. »Was ist denn jetzt eigentlich passiert?«
»Auf der Autobahn hat sich ein Wagen überschlagen.« Pias Stimme klang rau. »Es soll sogar einen Toten gegeben haben.«
Ich schluckte. »Wie schrecklich.« Doch die Ereignisse berührten mich nicht wirklich. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt.
Mit dem schwarzen Loch in meinem Gedächtnis. Und den Bildern, die mein vernebeltes Gehirn produzierte, um das Loch zu füllen.
Bilder, die mich nicht mehr losließen.
Zwei Personen in einem Auto mitten im Wald. Beschlagene Scheiben. Dunkelheit. Stille. Lustvolles Stöhnen. Zuckende Körper.
Gespreizte Schenkel. Blutige Kratzer auf weißer Haut . . .
Fantasie oder Wirklichkeit?
Pias Stimme beendete die Dauerschleife in meinem Kopf. »Die Polizei ist vor einer halben Stunde hier aufgekreuzt, um die Festivalbesucher
zu befragen. Besonders
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